Thursday Next 01 - Der Fall Jane Eyre
niemanden kennen, und ich muß gestehen, daß ich nicht gern unter Leute gehe. Ich habe mich um einen Posten bei unseren amerikanischen Kollegen in Ohio beworben; vielleicht finde ich ja dort eine Frau.«
»Erstens verdient man drüben sehr gut, und zweitens sind die Kollegen finanziell und auch sonst exzellent ausgestattet. Also, ich an Ihrer Stelle würde mich nicht zweimal bitten lassen«, sagte ich. Es war mein voller Ernst.
»Ach ja? Wirklich?« fragte Bowden mit einer jähen Begeisterung, die so gar nicht zu seiner ansonsten sehr kühlen Art passen wollte.
»Na klar. Tapetenwechsel«, stammelte ich und suchte nach einem neuen Gesprächsthema, damit Bowden sich keine falschen Hoffnungen machte. »Sind Sie … äh … schon lange bei den LitAgs?«
Bowden dachte einen Augenblick nach. »Seit zehn Jahren. Ich bin, gleich nachdem ich in Cambridge meinen Abschluß in Literatur des neunzehnten Jahrhunderts gemacht hatte, zu den SpecOps gegangen.
Jim Crometty hat mich vom ersten Tag an unter seine Fittiche genommen.« Er starrte wehmütig aus dem Fenster. »Wenn ich dabeigewesen wäre …«
»… wären Sie jetzt beide tot. Wer einem Menschen sechsmal ins Gesicht schießt, ist kein Sonntagsschüler. Er hätte Sie auch erschossen, ohne mit der Wimper zu zucken. Dieses ewige Was-wäre-wenn führt doch zu nichts; glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung. Hades hat zwei meiner Kollegen auf dem Gewissen. Ich habe mir das hundertmal durch den Kopf gehen lassen, trotzdem würde ich es wahrscheinlich noch einmal ganz genauso machen, wenn ich könnte.«
Lottie stellte einen Korb frischgebackenes Brot und zwei Teller Suppe vor uns hin.
»Lassen Sie sich’s schmecken«, sagte sie. »Das geht auf Kosten des Hauses.«
»Aber …!« protestierte ich.
Lottie brachte mich zum Schweigen. »Keine Widerrede«, sagte sie tonlos. »Nach dem Angriff. Nach dem Granatüberfall, als die Leichte Brigade zerschossen am Boden lag – sind Sie noch mal rein und haben getan, was Sie konnten.
Sie sind zurückgegangen und haben versucht, die Verletzten zu retten.
Ich weiß das zu schätzen.« Sie drehte sich um und verschwand.
Die Suppe war gut, die
rojoes cominho
sogar noch besser.
»Victor meinte, Sie seien in London für Shakespeare zuständig gewesen«, sagte Bowden.
Das war das bei weitem renommierteste LitAg-Ressort. Dicht gefolgt von den Lake Poets und der Restaurationskomödie. In jeder Behörde, so gleichberechtigt die Mitarbeiter pro forma auch sein mochten, etablierte sich früher oder später eine Hackordnung.
»Da es in London kaum Aufstiegsmöglichkeiten gab, wurden mir nach zwei Jahren die Shakespeare-Fälle zugeteilt«, erklärte ich und zupfte an einem Stück Brot. »In London hatten wir vor allem mit den Baconiern große Probleme.«
Bowden blickte auf. »Was halten Sie von der Bacon-Theorie?«
»Nicht viel. Wie die meisten anderen Menschen bin ich ziemlich sicher, daß an Shakespeare mehr dran ist als nur Shakespeare. Aber daß Sir Francis Bacon einen so gut wie unbekannten Schauspieler als Strohmann benutzt haben soll? Ich bitte Sie. Das kann ich nicht glauben.«
»Er war praktizierender Rechtsanwalt«, widersprach Bowden. »Und in vielen seiner Stücke kommen juristische Begriffe vor.«
»Das beweist gar nichts«, entgegnete ich. »Auch Greene, Nashe und vor allem Ben Jonson verwenden juristische Fachausdrücke; keiner von ihnen war studierter Jurist. Und mit den sogenannten Schlüsselwörtern brauchen Sie mir gar nicht zu kommen.«
»Die können wir komplett vergessen«, meinte Bowden. »Wenn Sie mich fragen. Ich bin auch kein Baconier. Die Stücke sind nicht von ihm.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Wenn Sie
De Augmentes Scientarium
lesen, werden Sie feststellen, daß Bacon das populäre Theater ablehnt. Außerdem wurde Shakespeares Truppe, als sie beim König um die Genehmigung ersuchte, ein Theater zu gründen, an den Petitionsausschuß verwiesen.
Dreimal dürfen Sie raten, wer dieser Kommission angehörte und sich am vehementesten gegen den Antrag aussprach.«
»Francis Bacon?« fragte ich.
»Genau. Wer auch immer die Stücke geschrieben hat, Bacon war es auf keinen Fall. Ich habe im Lauf der Jahre ein paar eigene Theorien entwickelt. Haben Sie schon mal von Edward De Vere, dem siebzehnten Earl of Oxford, gehört?«
»Kann sein.«
»Vieles deutet darauf hin, daß er, im Gegensatz zu Bacon, wirklich schreiben konnte, und zwar sehr gut – Moment.«
Lottie hatte ein Telefon an den Tisch
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