Thursday Next 02 - In einem anderen Buch
etwas zu lesen nutzten mir meine Buchspringerqualitäten offenbar gar nichts. Andererseits hatte ich nichts zu verlieren, und so versuchte ich es mit jedem Zitat, Gedicht oder Prosastück von Ovid bis de la Mare, das ich je auswendig gelernt hatte. Als mir nichts mehr einfiel, ging ich zu Limericks über, und am Ende erzählte ich sogar Bowdens Witze. Nichts. Nicht mal ein Flackern.
Ich kroch in den Schlafsack, legte mich auf den Boden und schloss die Augen. Ich hoffte, dass Landen auftauchen würde, damit ich das Problem mit ihm erörtern könnte. Aber dann kam alles ganz anders. Der Ring von Miss Havisham, den ich mir an den Finger gesteckt hatte, wurde plötzlich unglaublich heiß, es ertönte ein forpisches Geräusch und eine hagere Gestalt erschien neben mir.
Es war Miss Havisham, und sie sah ziemlich ärgerlich aus. Noch ehe ich ihr sagen konnte, wie froh ich war, sie zu sehen, zeigte sie mit dem Finger auf mich und erklärte: »Du hast eine Menge Ärger, mein Mädel!«
»Ach, wirklich?«
Das war nicht die Art von Bemerkung, die Miss Havisham von ihren Lehrlingen akzeptierte. Sie hatte wohl eher erwartet, dass ich bei ihrem Erscheinen aufsprang, und so versetzte sie mir mit ihrem Stock einen schmerzhaften Schlag auf das Knie.
»Au!« sagte ich, aber ich hatte begriffen und stand eilig auf. »Wo kommen denn Sie plötzlich her?«
»Havishams kommen und gehen, wie es ihnen beliebt«, sagte sie hoheitsvoll. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich - ich habe befürchtet, dass Sie es nicht billigen, wenn ich ohne Ihre Erlaubnis in Büchern herumspringe«, sagte ich verlegen, »besonders, wenn es um Poe geht.«
Ich erwartete eine Woge von Beschimpfungen, einen Vulkanausbruch, um es genauer zu sagen, aber der unterblieb. Miss Havishams Empörung stammte aus einer ganz anderen Ecke.
»Es kümmert mich wenig«, erklärte Miss Havisham sehr von oben herab, »was du in deiner Freizeit mit billigen Nachdrucken anstellst!«
»Oh«, sagte ich und versuchte aus ihren strengen Zügen zu lesen, was ich wohl falsch gemacht haben könnte.
»Du hättest es mir sagen müssen!« erklärte sie und machte einen bedrohlichen Schritt auf mich zu.
»Das mit dem Baby?« stammelte ich. Nein, das mit dem
Cardenio,
du Idiotin!«
»Cardenio?«
Man hörte ein leises Klirren. Es war jemand an der Tür. Miss Havishams Ankunft war beobachtet worden. »Das sind bestimmt Chalk und Cheese«, sagte ich. »Springen Sie lieber hier raus.«
»Kommt nicht in Frage!« erwiderte Miss Havisham. »Wir gehen zusammen. Du bist zwar eine schreckliche Närrin, aber ich bin für dich verantwortlich. Das Problem ist nur, drei Meter dicker Beton ist etwas mühselig - ich muss uns herauslesen. Gib mir schnell dein Reisebuch!«
»Das haben sie mir weggenommen.«
Die Tür öffnete sich, und Schitt-Hawse kam herein. Er grinste, als ob er gleich platzen wollte. »Sieh mal einer an!« sagte er. »Wenn man einen von diesen Buchspringern einsperrt, hat man fünf Minuten später schon zwei!«
Er musterte Miss Havishams altes Brautkleid und zog verblüffenderweise die richtigen Schlüsse. »Du meine Güte! Sind Sie ... Miss Havisham?«
Statt einer Antwort zog Miss Havisham ihre kleine Pistole und feuerte in seine Richtung. Er quiekte erschrocken und rettete sich mit einem Sprung durch die Tür. Stahl schlug auf Stahl, und man hörte, wie die Riegel vorgelegt wurden.
»Wir brauchen ein Buch«, sagte Miss Havisham grimmig. »Ganz egal, was - sogar ein Flugblatt würde genügen.«
»Hier ist nichts, Miss Havisham.«
Sie sah sich um. »Bist du sicher? Irgendwas muss es doch geben.«
»Ich habe alles durchsucht, es gibt nichts.«
Miss Havisham hob ihre linke Augenbraue und musterte mich von oben bis unten. »Zieh die Hosen aus, Mädel! Und sag jetzt bitte nicht auf diese unverschämte Art
Was?,
sondern tu einfach, was ich dir sage.«
Also gehorchte ich. Miss Havisham riss mir das Kleidungsstück aus der Hand und drehte es in den Händen, als ob sie darin etwas suchte.
»Na also!« rief sie triumphierend. Im gleichen Augenblick wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet, und eine zischende Tränengasgranate flog in den Raum. Ich versuchte zu erkennen, was Miss Havisham so entzückte, aber die Waschanleitung war alles, was sie entdeckt hatte.
Ich muss wohl ein ziemlich dummes Gesicht gemacht haben, denn sie sagte beleidigt: »Für mich genügt das durchaus!« Und dann begann sie zu lesen: »Reine Baumwolle. Maschinenwäsche bei 30°. Vor dem Waschen
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