Thursday Next 03 - Im Brunnen der Manuskripte
Tränen des Kummers.
Ich verfluchte meinen Leichtsinn. Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können? Mr Townsperson entsicherte bereits meine Pistole. Ich sah mich verzweifelt um. Selbst wenn ich eine Möglichkeit gefunden hätte, Miss Havisham zu alarmieren, hätte sie es wohl kaum noch geschafft, mich zu retten.
»Mr Townsperson«, sagte ich mit leiser Stimme und sah ihm fest in die Augen. »Mein eigener Ehemann! Sie würden Ihre Braut an ihrem Hochzeitstag umbringen?«
Er zitterte und warf Mrs Passerby einen hastigen Blick zu. »Ich ... fürchte, ich muss, Liebling.« Er sank in sich zusammen.
»Aber warum?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
»Wir brauchen die ... die -«
»Beim Großen Panjandrum, machen Sie schon, Mr Townsperson!« rief Mrs Passerby, die bei alledem der Rädelsführer zu sein schien. »Ich brauch meinen emotionalen Fix!«
»Halt mal!« sagte ich. »Was brauchen Sie? Einen Fix?«
»Ja«, sagte Mr Townsperson verlegen.
»Gefühls-Junkies
nennen sie uns. Es ist nicht unsere Schuld. Wir sind alles Rohlinge der Kategorien C-7 und D-3; wir haben keine eigenen Gefühle, aber wir sind schlau genug, um zu wissen, was uns fehlt.«
»Wenn Sie es nicht über sich bringen, werde ich es tun!« sagte Mr Rustic und tippte meinem »Ehemann« auf den Arm.
Der riss sich los. »Sie hat einen Anspruch darauf, zu erfahren, worum es geht. Sie ist schließlich meine Frau.« Er sah sich nach links und rechts um.
»Reden Sie weiter!«
»Angefangen haben wir mit heiteren Zweizeilern, die einen gewissen Reiz hatten. Das hielt aber nur ein paar Monate vor. Bald wollten wir mehr: Freude, Lachen und Glück, so viel wir nur kriegen konnten. Gartenpartys, wöchentliche Erntefeste und jeden Tag dreimal Lotto reichten bald nicht mehr aus. Wir brauchten ... die
harten Drogen.
«
»Trauer«, murmelte Mrs Passerby, »Unglück, Sorgen, Trübsal, Verlust - wir wollten
starke
Gefühle. Haben Sie schon mal
On Her Majesty's Secret Service
gelesen?«
Ich nickte.
»Genau das wollten wir. Erst die Hochzeit und dann der Tod der Braut in kürzester Zeit. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, verstehen Sie?«
Ich musterte die erregten Rohlinge. Unfähig, aus den engen Grenzen ihres ländlichen Idylls genug Gefühl zu erzeugen, hatten sie eine emotionale Achterbahn eingerichtet, die aus einer raschen Folge gewaltsamer Eheschließungen und Begräbnisse bestand. Ich betrachtete die Gräber im Kirchhof und fragte mich, wie viele andere wohl schon das Schicksal erlitten hatten, das mir bevorstand.
»Wir werden alle sehr traurig über deinen Tod sein«, flüsterte Mrs Passerby. »Ich hoffe, dass wir nicht allzu schnell darüber hinwegkommen.«
»Warten Sie«, sagte ich. »Ich habe eine Idee.«
»Wir wollen keine Idee, Liebling«, sagte Mr Townsperson und richtete wieder die Waffe auf mich. »Wir wollen Gefühle.«
»Wie lange hält so ein Schuss vor?« fragte ich ihn. »Einen Tag? wie lange kann man schon um jemanden trauern, denn man kaum kennt?«
Sie sahen sich gegenseitig an. Ich hatte natürlich recht. Der Kick, den sie sich damit verschaffen konnten, dass sie mich töteten und beerdigten, würde kaum bis zum Fünf-Uhr-Tee vorhalten.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ich kann euch mehr Gefühle verschaffen, als ihr verkraften könnt. Gefühle, die so stark sind, dass es euch umhaut.«
»Sie lügt!« rief Mrs Passerby nüchtern. »Bringt sie endlich um, ich kann nicht mehr länger warten. Ich brauch meine Trauer!«
»Ich gehöre zur Jurisfiktion. Ich kann mehr Aufregung in dieses Buch bringen, als euch tausend Blytons je verschaffen könnten.«
»Das könnten Sie?« riefen die Bewohner des Städtchens. Sie genossen die Hoffnungen, die ich weckte.
»Ja, und ich kann es auch beweisen. - Mrs Passerby?«
»Ja, was ist?«
»Mr Townsperson hat mir vorhin gesagt, dass Sie einen verdammt fetten Arsch haben.«
»Was
hat er gesagt?« fauchte sie wütend, während ihr Gesicht sich lustvoll rötete.
»Aber so etwas würde ich nie sagen«, erklärte Mr Townsperson, und man sah geradezu, wie die Entrüstung ihm gut tat.
»Wir auch!« riefen die Stadtbewohner aufgeregt. »Was haben Sie für uns für Gefühle?«
»Gar nichts kriegt ihr, ehe ihr mich nicht losbindet!«
Sie beeilten sich, meine Fesseln zu lösen. Glück und Trauer hatten sie zwar halbwegs über die Runden gebracht, waren inzwischen aber auch schon Routine geworden. Was ich ihnen zu bieten hatte, war brandneu und spannend.
Ich verlangte meine Pistole, die mir
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