Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Erfolg oder Mißerfolg den Platz des Kindes in der Gesellschaft vorherbestimmte. Aspundh verehrte seine Vorfahren regelmäßig und ehrerbietig. Mond fragte sich oft, ob der Erfolg eines Vaters es leichter machte, ihn als Gottheit zu verehren.
Sie erhob sich von der Schaukel. Sie begleitete ihn jeden Abend bei diesen Spaziergängen, und in der Zurückgezogenheit der Gärten klärten sie gemeinsam die Fragen, die während des Unterrichts am Tage unbeantwortet geblieben waren.
»Ist es dir auch warm genug? Die Frühlingsabende sind recht kühl. Hier, nimm meinen Mantel!«
»Nein, es ist ausgezeichnet so.« Insgeheim trotzig schüttelte sie den Kopf. Sie trug ein ärmelloses Kleid, das sie während einer Show im Dreideh gesehen hatte. Sie hatte den Eindruck, daß die Leute hier sogar vom Anblick eines bloßen Armes peinlich berührt waren. Aber sie haßte es, gezwungen zu werden, mehr anzuziehen, als sie wollte, daher trug sie weniger.
»Ah, um gleich den richtigen Einstieg zu finden!« Er lachte, sie spürte ein sanftes Stirnrunzeln. »Heute abend ist dein liebliches Lächeln nicht zu sehen. Liegt es daran, daß du morgen zum Raumhafen zurückkehren mußt?« Sie gingen gemeinsam nebeneinander her, Mond zwang sich zu kleineren Schritten, damit er mithalten konnte.
»Teilweise.« Sie senkte den Blick zu ihren weichen Hausschuhen und dem Pflaster des Weges darunter. Silky konnte Stunden damit verbringen, sie fasziniert zu betrachten ... Sie war sogar froh, ihn wiederzusehen, froher als über die Rückkehr zu Elsevier. Und sie war froh, der steifen Perfektion der künstlichen Schönheit dieser Welt entrinnen zu können. Sie freute sich auf die abendlichen Spaziergänge, denn tagsüber war KR mit anderen Dingen beschäftigt, während ALV ihre Studien überwachte und sich um die Diskretion kümmerte, daß ein Mädchen von zweifelhafter Herkunft sich im Haus ihres Vaters aufhielt. ALV behandelte sie respektvoll, wahrscheinlich wegen dem Kleeblatt an ihrem Hals, doch allein ALVs Gegenwart reichte aus, aus jeder anmutigen Bewegung ein unbeholfenes Tapsen zu machen, eine zerbrochene Vase oder ein umgeschüttetes Glas waren oft die Folge. ALVs gnadenlose Gelehrigkeit machte eine falsche Anrede fatal, Fragen töricht und Gelächter undenkbar. Das hier war eine Welt, die Angst davor hatte, über sich selbst zu lachen, Angst davor, die Kontrolle zu verlieren – Kontrolle über die Hegemonie, Kontrolle über Tiamat.
»Glaubst du, noch mehr Zeit zu brauchen? Nur noch wenig gibt es, was ich dir beibringen kann – und unglücklicherweise ist auch die Zeit knapp.«
»Ich weiß.« Ein überraschtes Geschöpf spreizte seinen glänzenden Schuppenpanzer und quiekte protestierend. »Ich weiß, alles ist bestens. Was aber, wenn alles sich als unzureichend herausstellen sollte?« Sie hatte gespürt, wie während des Lernprozesses langsam das Vertrauen in ihr Kleeblatt und ihre Fähigkeiten wiedergekehrt war, während sie die Wahrheit erfahren hatte, aber sie war immer noch nicht imstande gewesen, tatsächlich einen Transfer zu vollziehen, denn sie hatte Angst, daß ein Scheitern jetzt ein Scheitern für immer bedeuten könnte.
»Du wirst bereit sein.« Er lächelte. »Denn du mußt bereit sein.«
Sie konnte sich auch zu einem Lächeln durchringen, als die Versicherung in ihrem Geist widerhallte. Es gab einige Dinge am Netz der Sibyllen, das nicht einmal die Kharemoughis erklären konnten – Anomalien, Unvorhersehbarkeiten –, als wäre die allwissende Quelle der Inspiration einer Sibylle irgendwie nicht ganz perfekt geformt. Manche Antworten waren so verschlüsselt, daß sie bisher noch kein Experte hatte entziffern können. Manchmal schien der Mechanismus auch auf eigene Faust zu handeln, obwohl er normalerweise nur reagierte. Diesmal hatte er beschlossen zu handeln, und er hatte sie als Werkzeug erkoren ... Sie würde nicht versagen, sie konnte nicht. Aber was war ihr Ziel, wenn Funke sie nicht mehr wollte?
Ihn zurückerobern. Das werde ich. Das kann ich.
Sie ballte die Fäuste als Geste der Entschlossenheit.
Wir gehören zueinander. Er gehört zu mir.
»Schon besser«, sagte Aspundh. »Und nun, was für letzte Fragen willst du mir stellen? Ist noch etwas unklar?«
Sie nickte langsam, dann stellte sie die eine Frage, die sie von Anfang an schon beschäftigte. »Warum möchte die Hegemonie es auf Tiamat geheimhalten, daß es überall Sibyllen gibt? Warum sagen sie den Wintern, daß wir böse oder verrückt sind?«
Er runzelte
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