Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Faden.
»Und du meinst, sterben wäre der richtige Weg?«
»Nein!« Sie schlug mit der Faust auf das kühle Metall. »Nein, deshalb mußte ich ja raus aus allem ... Ich muß einen anderen Weg finden.« Sie wandte sich langsam wieder zu ihm um, ihre Augen waren geschlossen.
Er wartete stumm einen Augenblick lang. »Jerusha ... ich kann mir gut vorstellen, unter welchen Druck sie dich die ganze Zeit gesetzt haben. Diese Art von Druck kannst du nicht einfach bezwingen, indem du ihn zurückhältst. Du wirst nicht allein damit fertigwerden.« Plötzlich, fast wütend: »Warum hast du nicht angerufen? Warum hast du nicht mehr geantwortet? Hast du kein Vertrauen zu mir?«
»Zu viel.« Sie preßte die Lippen aufeinander, um ein absurdes Kichern zu unterdrücken. »Oh, Götter, ich vertraue dir zu sehr. Schau mich doch an, ich bin noch keine fünf Minuten hier und habe dir schon mein Herz ausgeschüttet. Dein purer Anblick zerbricht mich.« Sie schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. »Versteh doch! Ich kann mich nicht auf dich stützen, ohne selbst zum Krüppel zu werden.«
»Wir sind alle Krüppel, Jerusha. Wir werden schon als Krüppel geboren.«
Sie öffnete langsam die Augen. »Wirklich?«
Er hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und blickte hinaus übers Meer. Die steife Brise zerzauste sein rabenschwarzes Haar. Sie zitterte trotz ihres schweren Mantels. »Du kennst die Antwort, sonst wärst du nicht gekommen. Gehen wir ins Haus.« Er sah zu ihr herüber, sie nickte.
Sie folgte ihm hinauf zum Haus und redete belangloses Zeug über die Ernte und das Wetter, während sie ihren ganzen Widerstand aus sich heraus ins Meer fließen ließ. Sie kamen an der einsamen Windmühle vorbei, die wie ein einsamer Wächter vor den Hauptgebäuden stand. Er benützte sie dazu, Wasser aus seinem Brunnen hochzupumpen. Wieder dachte sie daran, wie schon oftmals zuvor, was das doch für ein lächerlicher Anachronismus auf einer Farm war, die über importierte Kraftwerkanlagen verfügte.
»Miroe, ich habe mich schon immer gefragt, warum du dieses Ding benutzt, um deine Pumpe anzutreiben.«
Er blickte über die Schulter und antwortete gutmütig: »Du hast mir schon meinen Sehweber weggenommen, Jerusha. Wer weiß, wann man mir meine Generatoren nimmt.«
Es war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte, doch sie schüttelte den Kopf. Dann erreichten sie das Hauptgebäude und traten über die sturmumtoste Veranda ein. Sie kannte das Zimmer ganz genau, obwohl sie seit ihrem ersten Besuch nur ein paar gestohlene Abende mit überkreuzten Beinen neben dem Kaminfeuer verbracht hatte, in Wärme und goldenes Licht gehüllt, während sie gemeinsam ein 3D-Drama genossen oder sie Miroe mit ihren Erinnerungen an eine andere Welt in ihren Bann geschlagen hatte.
Sie nahm den Helm ab und schüttelte die dunklen Locken. Dann ließ sie den Blick über die billige und doch anheimelnde Atmosphäre des Raums schweifen, wo Relikte seiner Vorfahren von anderen Welten in friedlicher Eintracht neben großen, eingeborenen Möbelstücken standen. Sie trat zu dem wuchtigen Kachelofen und wandte sich ihm zu, um ihren Rücken aufzutauchen. »Weißt du, obwohl es schon so lange her ist, kommt es mir vor, als wäre ich überhaupt nicht weggewesen. Ist es nicht komisch, daß manche Orte so etwas an sich haben?«
Er sah sie über den Raum hinweg an, antwortete nicht, lächelte aber. »Warum bringst du deine Sachen nicht nach oben? Ich richte uns etwas zu essen.«
Sie nahm den Rucksack auf, in den sie Wäsche zum Wechseln gepackt hatte, und ging die knirschende Treppe zum zweiten Stock hinauf. Es war ein großes Haus, in dem Gelächter von Kindern nachhallte ... es war voller Erinnerungen. Das Geländer unter ihren Fingern war von zahllosen Händen glattgeschliffen worden, doch die Räume und Korridore waren jetzt verlassen. Nur noch Miroe, der letzte seiner Familie, lebte hier, allein. Allein unter Wintern, die hier für ihn arbeiteten. Sie spürte das Rand des Vertrauens und Respekts, das zwischen ihnen zu existieren schien, ein festeres Band, als sie es zwischen Besitzer und Arbeitern, Eingeborenen und Außenweltler, erwartet hatte. Doch er war auch immer von einem undurchdringlichen Schild der Zurückhaltung umgeben, das ihn von anderen absonderte. Manchmal konnte sie fühlen, wie es sich funkensprühend an Ihrem eigenen rieb.
Sie betrat den Raum, den sie immer bewohnt hatte, und warf ihren Helm und die Tasche aufs Bett, die in der Matratze
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