Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
wieder zurück, als der Jugendliche einen schweren Stein aufhob. Sie riß den Reißverschluß ihres Anzugs bis zum Bauch auf, während der Stein drohend über ihrem Kopf verharrte. »Sibylle!« Sie schleuderte ihm das Wort wie eine Waffe entgegen.
Der Junge ließ den Stein aus zitternden Fingern fallen und stieß seine Kapuze zurück. Sie sah, wie sein Gesicht die Unmenschlichkeit verlor, sah seinen verwirrten Blick, der der Blutspur bis zu ihrer Kehle folgte.
»Sibylle ... « Sie deutete auf die Tätowierung und betete dabei, daß es deutlich genug sein mochte und er es auch begreifen würde.
»Ma. « Der Junge ließ sich auf die Fersen sinken und rief hinter seinen Rücken. »Sieh dir das an!«
Weitere weißvermummte Gestalten tauchten wie ein Geister-tribunal um sie herum auf. Sie schimmerten und verschwammen vor ihren Augen.
»Eine Sibylle, Ma!« Eine weibliche Gestalt hüpfte aufgeregt neben ihr auf und ab. »Wir dürfen sie nicht töten.«
»Ich fürchte mich nicht vor dem Blut einer Sibylle.« Mond erkannte die Stimme als zu einer alten Vettel gehörig, die zwischen anderen Weißgekleideten stand und sich vor die Brust schlug. »Ich bin heilig. Ich werde niemals sterben.«
»Einen Dreck wirst du.« Das Mädchen schob ihren Bruder beiseite, um ihre Kehle näher zu betrachten. Sie kicherte nervös und richtete sich wieder auf. »Kannst du sprechen?«
»Ja.« Mond richtete sich auf und legte eine Hand an die Kehle, sie war heiser vor Bemühen, nicht zu schlucken. Sie blickte über Silkys Leichnam, sah weitere weiße Gestalten dahinter, die mit ihren Häutermessern arbeiteten und die toten Mers ausweideten. Sie schwankte vorwärts, umklammerte ihre Knie und blickte weg.
Ich habe ihn nicht gesehen. Unmöglich! Es war jemand anders!
Sie seufzte. Ihre Stimme klang wie das Klagelied aus einer Merkehle.
»Dann will ich sie haben.« Das Mädchen wandte sich an die alte Frau. »Ich will sie für meinen Zoo. Sie kann meine Fragen beantworten!«
»Nein!« Die alte Frau schlug nach ihr, sie zog den Kopf ein. »Sibyllen sind krank. Die Außenweltler sagen, daß sie krank sind. Sie sind Krankheitsträger. Keine Haustiere mehr, Blodwed! Du hast sowieso schon viel zu viele. Ich habe sie alle satt ... «
»Versuch's doch mal!« Blodwed trat heftig nach ihr. Die alte Frau wich heulend zurück. »Versuchs doch mal! Wenn du ewig leben willst, dann laß besser meinen Zoo in Ruhe, alte Schlampe!«
»Schon gut, schon gut ...«, winselte die Vettel. »Du sollst nicht so mit deiner Mutter umspringen, du undankbarer Balg. Gebe ich dir nicht alles, was du willst?«
»Schon besser.« Blodwed stemmte die Arme in die Hüften, dann blickte sie grinsend auf Monds Jammergestalt hinab. »Ich glaube, du bist genau das, was ich brauchen kann.«
»Götter! Oh, meine Götter!« Mehr Fluch als Gebet.
Jerusha stand stumm neben Miroe am leblosen Ufer und lauschte dem fernen, hohen Kreischen der Aasvögel. Ihr Blick glitt rastlos über das vom Tod gezeichnete Steinfeld, als wollte er nirgends verharren, um sich eine Szene genauer einzuprägen, doch sie wollte auch nicht Miroe ansehen, der mit aschgrauem Gesicht neben ihr stand. Sie war unfähig, ein Wort zu sagen oder ihn gar zu berühren, schämte sich gleichzeitig aber auch, noch tiefer in einen Kummer einzudringen, der sich ihrem Verständnis entzog. Das war die Jagd, das Merschlachten – diese nach Verwesung und Tod stinkenden Kadaver auf der kahlen Küste. Dies war etwas, das sie prinzipiell verabscheute, ohne je den Versuch unternommen zu haben, sich an seine Realität heranzutasten. Doch dieser Mann haßte die Realität.
Miroe entfernte sich vom Patrouillenfahrzeug und stapfte zwischen den Leichen der Mers, wobei er jeden gehäuteten, blutigen Körper mit masochistischer Gründlichkeit untersuchte. Jerusha folgte ihm in einiger Entfernung. Sie spürte, wie sie die Kiefer immer heftiger zusammenpreßte, bis sie sich fragte, ob sie jemals wieder imstande sein würde, sie zu öffnen. Sie sah, wie er lieben einer Leiche niederkniete. Beim Näherkommen erkannte sie, daß es sich nicht um einen Mer handelte, aber auch nicht um einen Menschen. »Ein ... ein toter Hund?«
»Ein toter Freund.« Er hob den schlaffen Körper des Dillyps auf wie den eines Kindes. Sie sah den dunklen Fleck im Sand, wo er gelegen hatte. Sie sah verständnislos zu, wie er die Leiche um Wasser trug, wo er hineinwatete, bis die Wogen gegen seine Brust schwappten. Dann ließ er den Leichnam friedlich ins
Weitere Kostenlose Bücher