Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Grund? »Ja, ich möchte Euer Gesicht sehen«, murmelte sie zwischen gefühllosen Lippen hervor.
Die Sommerkönigin trat näher an das Fahrzeug, wo die Menge sie nicht so deutlich sehen konnte. Sie hob langsam die Maske von ihrem Kopf.
Eine Kaskade silbernen Haares kam darunter zum Vorschein. Arienrhod keuchte, als die das Gesicht unter der Maske erkannte. Auch der Reigen der Sommer, die das Fahrzeug umgaben, keuchte. Sie hörte ihre murmelnden Stimmen, als das Wasser sich verbreitete und alle sahen, was sie sah ... von Angesicht zu Angesicht mit ihr.
»Mond ... « Kaum ein Flüstern, um sie zu verraten. Ihr Körper blieb absolut ruhig sitzen, als würde er überhaupt nichts Ungewöhnliches sehen, nichts Bemerkenswertes, Unglaubliches, Unmögliches.
Nicht vergeblich. Es war nicht vergeblich!
»Götter«, murmelte Herne mit schwerer Zunge. »Wie? Wie hast du das angestellt, Arienrhod?«
Sie lächelte nur.
Mond schüttelte ihr Haar aus und begegnete dem Lächeln mit Vergebung, Trotz und Hingabe. »Die Veränderung ist gekommen – wegen Euch und trotz Euch, Eure Majestät.« Sie senkte die Maske wieder über den Kopf.
Die Sommer zogen das Gefährt weiter, sie sahen von einer zur anderen, ihre Mienen lagen zwischen Erstaunen und Furcht. »Die Königin! Sie sind beide die Königin ...«
ein Zauber, ein Omen.
Das Mal der Sibylle war deutlich an Monds Kehle zu erkennen, sie deuteten darauf und murmelten wieder.
Herne kicherte unter Schwierigkeiten. »Das Geheimnis ist enthüllt – endlich! Sie war auf einer anderen Welt, sie weiß, was sie ist.«
»Was? Was, Herne?« Sie versuchte, den Kopf zu drehen.
»Sibyllen sind überall! Du hast das nie gewußt, nicht wahr, nicht einmal geahnt. Und diese aufgeplusterten Dummköpfe dort oben ... « – blickte zu den Tribünen der Außenweltler hinauf – »... haben keine Ahnung.« Sein Lachen entwich keuchend seinem Mund.
Sibyllen sind überall ...? Können sie real sein? Nein, das ist ungerecht, es gibt noch so viel
zu
lernen!
Sie schloß die Augen, da sie sie nicht auf ihre inneren Gedanken konzentrieren konnte.
Aber es war nicht vergeblich!
Der Chor des Klagens und Jubelns begann von neuem, so unausweichlich wie der Prozeß der Veränderung und hungrig nach einem Opfer. Aller Kummer der Menge, alle Abneigung, alle Scham und alle Feindseligkeit und Furcht ergoß sich über das Boot, über die beiden hilflosen Wesen, sie selbst und Herne, damit sie am Höhepunkt des Rituals mit ihnen untergehen sollten. Sie sträubte sich nicht mehr gegen den Kontakt ihres Körpers mit Herne, denn nun war sie dankbar, daß jemand das Urteil mit ihr teilte, der in diesen letzten Augenblicken bei ihr war ... vor dem Durchbruch in eine andere Ebene. Sie hatte so viele Visionen des Himmels gesehen, so viele Höllen, daß sie die freie Auswahl hatte.
Ich hoffe, wir können uns unseren eigenen machen.
Sie wandte den Blick ein letztesmal um zu Mond, die abseits vom Pfad des Wagens stand. Ihr Körper war straff vor Anspannung, als wollte sie jeden Moment einen unversöhnlichen Fluch aussprechen, einen Fluch, den sie niemals mehr zurücknehmen konnte.
Warum schmerzt es sie? Ich würde jubeln ...
Aber sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum sie jubeln würde, und ob es stimmte. Sie sammelte ihre Gedanken noch einmal, bevor Mond die letzten Worte sprechen konnte. »Mein Volk ...« Sie wurde fast von ihrem Brüllen übertönt. »Der Winter ist zu Ende! Gehorcht der neuen Königin ... wie eurer eigenen. Denn sie ist nun eure eigene.« Sie senkte den Blick, sah Mond in die Augen. »Wo ist ... er?«
Mond nickte leicht mit dem Kopf, nicht ohne eine Spur Eifersucht, doch sie gewährte ihrer Klonmutter die letzte Bitte. Sie folgte ihrem Blick und sah Funke unter den honorigen Sommern stehen, direkt neben dem freien Platz, der der Sommerkönigin selbst zustand. Doch er hatte die Augen geschlossen, um den Augenblick des Abschieds nicht erleben zu müssen, oder um zu verhindern, daß sie aufsah und ihn ein letztes-mal betrachtete ...
Es liegt ihm etwas daran ... es liegt ihm wirklich etwas daran.
Sie sah wieder zu Mond.
Beiden.
In diesem Augenblick war sie ungemein überrascht und grenzenlos beruhigt von der Gleichgültigkeit des Lebens gegenüber Vernunft und Gerechtigkeit.
Als sie den Kopf wieder umwandte, begegnete sie Hernes düsterem Blick – er wußte, wem ihre Gedanken in diesem letzten Augenblick galten.
»Ewig ... Herne.«
Er schüttelte den Kopf. »Wir sind ewig. Dies hier. Der
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