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Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin

Titel: Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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alle anderen Anlässe waren nur Generalproben für die nächste Veränderung gewesen. Sie hatten die ›Königin für Einen Tag‹ gewählt, die über die Nacht der Masken gewacht und bei Anbruch der Dämmerung den Weg hier herab angetreten hatte. Doch auf ihr Zeichen hin waren dem Meer nur zwei Puppen übergeben worden, keine Menschenleben.
    Und im Verlauf dieser Bälle waren nur sie selbst und die Mitglieder der Delegation unverändert geblieben, und natürlich das Ritual selbst. Doch dieses letzte Mal sah ihr Ende – und damit auch das Ende all ihrer Bemühungen, auszubrechen, und nun konnten sie und das System, das sie repräsentierten, für immer weiter existieren. Ihre Hände verkrampften sich im weichen Stoff ihres Kleides.
Wenn ich sie
nur
alle mit mir nehmen könnte!
Aber es war zu spät, für alles zu spät.
    Endlich konnte sie die Sommerkönigin sehen, die zwischen den roten Tribünen am Pier stand. Unter ihr schwappte das bitterkalte Wasser ans Ufer. Ihre Maske war wunderschön und erweckte aufrichtige Bewunderung in Arienrhod.
Aber sie wurde von einer Winter hergestellt.
Und wer wußte, was für ein hausbackenes, nichtssagendes Inselbewohnergesicht sich dahinter verbarg, was für ein plumper Körper und blöder Verstand von der schimmernden Schönheit des schuppenartigen Seidennetzgespinsts umhüllt wurde. Die Vorstellung dieses Gesichts, dieses Verstandes, der ihre Stelle einnahm, drehte ihr den Magen um.
    Herne neben ihr war schweigsam, so schweigsam wie sie. Sie fragte sich, was für Gedanken er hegen mochte, wenn er die wartende Elite seiner Heimatwelt und das wartende Meer sah. Sie konnte seinen Ausdruck unter der Maske nicht deuten.
Der Teufel soll ihn holen!
Sie betete, daß er seinen selbstmörderischen Impuls mittlerweile bedauern mochte, daß er wenigstens einen Bruchteil ihrer eigenen Verzweiflung und ihres Bedauerns verspüren mochte, nun, da er vor den Trümmern der Ruinen ihres Lebens stand.
Soll der Tod eben Vergessen bringen! Und ich muß ihn mit diesem Symbol meines eigenen Versagens teilen, was schlimmer ist als alle Höllen der Außenweltler zusammen!
    Der Wagen war inzwischen so weit es möglich war in den Freiraum am Pier eingedrungen. Die Eskorte der Adligen wurde langsamer, schließlich blieb sie ganz stehen und ließ die Seile los. Sie umkreisten das Gefährt dreimal langsam und warfen alle ihre Außenweltlermitbringsel hinein, während sie das endgültige Abschiedslied für den Winter sangen. Schließlich verbeugten sie sich vor ihr, und sie konnte ihr individuelles Wehklagen über das Lärmen der Menge hinweg hören. Sie wichen von dem Fahrzeug zurück. Manche küßten den Saum ihres Mantels im Vorübergehen. Manche erlaubten sich sogar, ein letztesmal ihre Hand zu berühren, einige ihrer ältesten und treuesten Gefolgsleute der vergangenen eineinhalb Jahrhunderte. Ihr Kummer berührte sie unerwartet und sehr tief.
    Ihre Plätze wurden von einem Kreis von Sommern eingenommen, die ebenfalls maskiert waren und eine Hymne an die bevorstehenden goldenen Zeiten sangen. Sie verschloß ihren Verstand und hörte nicht hin. Auch sie umkreisten den Wagen dreimal und warfen ihre eigenen Gaben hinein – primitive, rasselnde Kolliers aus Muscheln und Steinen, bunte Angelhaken und grüne Zweige.
    Als sie ihr Lied beendet hatten, verstummte auch die versammelte Menge, bis sie das Knirschen und Ächzen von Takelage hören konnte, das sie an die im Hafen anwesenden Schiffe erinnerte, die das Wasser bedeckten: ein fast undurchdringliches Gewand aus Holz, Metall und Segeltuch. Über ihnen ragte Karbunkel wie ein drohender Sturm auf, doch hier, am Rand des Unterbaus der Stadt, konnte sie aus ihrem Schatten heraus das grau-grüne Meer überblicken.
Endlos ... ewig ... ist es ein Wunder, daß wir dich verehren?
Sie erinnerte sich, daß sie einst, in längst vergessenen Zeiten, ebenfalls an das Meer geglaubt hatte.
    Die Maske der Sommerkönigin drängte sich zwischen sie und den Anblick des Meeres, als die Frau vor sie und den Wagen herantrat. »Eure Majestät.« Die Sommerkönigin verbeugte sich vor ihr, und Arienrhod erinnerte sich daran, daß sie bis zu ihrem Tod noch Königin war. »Ihr seid gekommen.« Die Stimme klang seltsam unsicher und seltsam vertraut.
    Sie nickte ernst und bestimmt, und plötzlich hatte sie das eine, was ihr noch geblieben war, wieder unter Kontrolle. »Ja«, antwortete sie, als ihr die rituellen Worte wieder einfielen. »Ich bin gekommen, um verändert zu werden. Ich bin

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