Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
Tod. Das Leben ... ist nicht von Dauer.«
»Wir leben, solange sich jemand an uns erinnert. Und mich werden sie nie mehr vergessen ...« Denn ihre Reinkarnation hatte bereits ihre Stelle eingenommen. Sie hatte eine Willenskraft mehr, um sich nochmal zu Mond oder Funke umzudrehen.
Schau niemals zurück!
Mond hob die Arme zum Meer und rief wie eine Möwe in die Brandung der Rufe der Menge. »Herrin des Meeres, Mutter von allem, nimm unsere Gaben und vergelte sie neunfach, nimm unsere Sünden und bring uns Erneuerung, nimm die Seele Winters, auf daß sie neu geboren werde.« Sie sank in sich zusammen. »Laß den Sommer beginnen!«
Arienrhod spürte, wie das Boot von den Sommern gestoßen wurde, sah die ölige Wasseroberfläche näherkommen. Die Flut hatte ihren Höchststand erreicht, daher lag sie dicht unter dem Rand des Piers – wie ein matt gewordener Spiegel.
So soll es geschehen. Es war nicht vergeblich.
Das Heulen und Jubeln der Menge war eine Hymne an die Zukunft, die ihr Andenken pries. Das Boot schwankte unter ihr. Sie beugte sich über den Rand und betrachtete ihr Spiegelbild, während es sank.
55
Mond sah, wie das Boot auf der Wasseroberfläche aufprallte, sah es untertauchen und wieder emporkommen, der Aufprall war bis in ihre Knochen spürbar. Das bedrohliche Rufen der Menge ging weiter und weiter. Das Boot trieb vom Pier weg, wobei es immer tiefer sank. Es drehte sich langsam, bis sie die Gesichter von Starbuck und der Königin sah. Arienrhod ... sie selbst, ihr Gesicht ausdruckslos und von Drogen betäubt, in der grotesken Parodie einer Umarmung aneinandergefesselt. Während sich das Boot mit Wasser füllte, begann es, immer rascher zu kreisen. Mond wollte die Augen schließen, konnte sich aber der hypnotischen Wirkung dieses endgültigen Totentanzes auf dem Wasser nicht entziehen. Sie erinnerte sich an ihre eigene Prüfung durch das Meer, erinnerte sich an alles, was sie bis hierher geführt hatte, Opfer um Opfer. Und immer noch konnte sie den Blick nicht abwenden .. .
Das Boot kippte plötzlich etwas, als die Gesichter wieder der Menge zugewandt waren, dann war es binnen eines Augenblicks verschwunden. Mond blinzelte, doch es kam nicht wieder zum Vorschein. Die Meeresoberfläche lag so unberührt wie zuvor da, und nur sanfte Wellen kündeten davon, daß Sie die Gabe Ihres Volkes akzeptiert hatte. Das Brüllen der Menge war wie ein Sturm, die ganze Unterwelt erzitterte. Mond betrachtete die langsamen Wellenbewegungen, sie stand so flüssig und unbeweglich wie das Meer selbst an seinem Ufer.
Schließlich trat einer der Sommer nach vorne und berührte zögernd ihren Arm. Mond erschauerte unter der Berührung und atmete tief durch. »Herrin?« Er verbeugte sich, als Mond sich endlich umdrehte. Die Sommer akzeptierten ihre Rolle als Inkarnation der Meeresmutter und redeten sie nicht mit der gekünstelten königlichen Anrede der Außenweltler an. »Die Demaskierung ...«
»Ich weiß.« Sie nickte und ließ noch während sie sprach den Blick erneut über das Meer dahingleiten.
Gute Reise und einen
sicheren Hafen!
Sie trat vom Rand des Piers zurück und ging näher zum Zentrum der Menge.
»Herrin« ... Ich bin die Königin.
»Die Königin ... die Königin ... die Königin ist tot! Lang lebe die Königin!« Die Rufe der Sommer halten wie Spott in ihr wider.
Sie hob die Hände zu ihrer Maske, Hände, die sich kalt und klamm wie der Wind anfühlten, der durch die Unterwelt strich. »Mein Volk ...« Sie spürte, wie ihr Körper sich der Bewegung widersetzen wollte, wieder ihr Gesicht zu enthüllen, denn nun wurde sie sich der Gefahr bewußt, von der sie nur einen winzigen Teil in den Augen der sie umgebenden Sommer gesehen hatte. Nun würde ihre Ähnlichkeit mit Arienrhod für jeden offensichtlich werden - besonders für die Außenweltler. Wenn sie die Wahrheit auch nur vermuteten ... Sie schüttelte den Kopf und damit die restlichen Worte los, die sie ihrem Volk sagen mußte. »Der Winter ist vorbei, der Sommer ist endlich gekommen. Die Herrin hat unsere Gabe angenommen und wird sie neunfach vergelten. Das gewesene Leben ist tot - es soll hinweggespült werden wie eine abgelegte Maske, eine abgeworfene Muschel. Jubelt nun und beginnt von vorn!« Sie nahm die Maske von ihrem Kopf.
Die ganze Menge - Sommer, Winter, Außenweltler - wurde in diesem Augenblick eins. Ihre Freudenschreie und das Rascheln abgenommener Masken, die von unzähligen Köpfen gerissen wurden, verschmolzen zu einem Crescendo -
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