Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
die Lippen aufeinander. Die Götter hatten damit nichts zu tun, die ganze Sache stank nach menschlichen Machenschaften.
Andradi rieb sich traurig die Augen mit beiden Händen, als sie die spielenden Kinder sah, Teil einer Welt, aus der sie so plötzlich herausgerissen worden war. »Ich wünschte ... ich wünschte, ich könnte Scelly und Minook Auf Wiedersehn sagen. Aber Mama läßt uns nicht, wegen ... wegen Paps. «
Jerusha fragte sich, ob ihre Mutter einfach der Meinung war, das würde nicht zur Trauer passen, oder ob sie Angst davor hatte, was die anderen Kinder zu den ihren sagen würden. Daher sagte sie nur: »Das werden sie verstehen.«
»Aber ich will nicht weggehen und sie nie mehr wiedersehen! Ich hasse Neuhafen!« Andradi war auf Tiamat zur Welt gekommen, und ihre auf Eindruck versessenen Eltern pflegten den behäbigen, prätentiösen kharemoughischen Lebensstil. Für das Mädchen war ihr Heimatplanet nur ein Name, ein Symbol all dessen, was so plötzlich in ihrem Leben schiefgegangen war.
Jerusha legte einen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens und betrachtete über seinen Kopf hinweg das steril eingerichtete Zimmer. Sie vernahm gedämpfte Geräusche aus den oberen Stockwerken, wo Marika und die Diener die letzten Habseligkeiten der Familie zusammentrugen. Die meisten Möbel ließen sie hier – nicht allein wegen der ausgesprochen hohen Transportkosten, sondern auch wegen der schmerzlichen Erinnerungen, die sie daran knüpften. »Ich weiß, Andradi. Jetzt haßt du Neuhafen. Aber wenn du dort bist, wirst du neue Freunde finden, die dir zeigen werden, wie man auf Prongbäume klettert und Hüte aus deren Rinde macht. Sie werden dich mit einer Lampe hinausführen und dir Blumen zeigen, die nur nachts blühen. In der warmen Jahreszeit fällt Regen wie eine warme Dusche vom Himmel, und die Reben in eurem Garten werden voller süßer Beeren hängen. Du kannst in den Teichen schimmernde Wogs fangen . ..« Obwohl sie sehr bezweifelte, daß Marika ihren Töchtern erlauben würde, Wogs zu fangen. Andradi schniefte. »Was ... was ist das?«
Jerusha lächelte. »Kleine Tiere wie die Fische, die in den Wintertümpeln leben. Im Sommer vergraben sie sich im Schlamm und warten bis zur nächsten Regenzeit.«
»Hundert Jahre?« Andradi riß die Augen auf. »Das ist eine lange Zeit.«
Jerusha lachte, als sie den Sinn der Worte verstand. »Nein, nicht hundert, nur ein paar. Winter und Sommer dauern dort nicht so lange wie hier.«
»Oh, was für ein Glück!« Andradi klatschte in die Hände. »Das wird sein, als würde man ewig leben. Genau wie die Schneekönigin!«
Jerusha winselte, stieß den Gedanken aber beiseite und nickte ihr aufmunternd zu. »Nur zu. Es wird dir auf Neuhafen gefallen. Ich weiß es.« Sie merkte, daß sie ihr die Dinge verschwieg, die sie selbst mit zunehmendem Alter hassen gelernt hatte. »Ich wünschte, ich könnte auch zurückkehren.« Die letzten Worte schlüpften ihr ungewollt heraus.
Plötzlich hing Andradi wie eine Klette an ihr und vergrub das Gesicht in ihrer Tunika. »Oh, ja ... oh, ja, Jerusha, bitte komm mit! Du kannst mir alles zeigen, du weißt doch alles. Ich möchte, daß du mit mir kommst.« Sie zitterte. »Du bist eine gute Blaue.«
Jerusha streichelte das dunkle, lockige Haar. Plötzlich stand sie sprachlos vor der Erkenntnis, was sie nun für dieses Kind bedeutete, dessen aufrechtes Symbol von Stabilität und Vertrauen sich selbst zugrunde gerichtet hatte. Nun verschloß sie ihre Augen auch nicht mehr vor der Tatsache, wie tief Andradis Kummer in ihre eigene Selbstverteidigung eingedrungen war und ihr Herz gerührt hatte.
Sie lockerte den Griff den Mädchens, das seine Arme unterhalb des Instrumentengürtels um sie geschlungen hatte, und nahm ihre warmen Händchen in ihre. »Danke, Andradi. Vielen Dank für deine Bitte. Ich wollte, ich könnte dich begleiten, aber meine Aufgabe hier ist noch nicht zu Ende. Dein Vater ... dein Vater hat sich das nicht selbst angetan, Andradi. Egal, was andere auch erzählen, vergiß das niemals. Jemand ist dafür verantwortlich. Ich weiß noch nicht wer, aber ich werde es herausfinden. Ich werde dafür sorgen, daß diese Person bezahlen muß. Und wenn ich das getan habe, dann bekommst du eine Nachricht von mir, damit du weißt, daß es geschehen ist Danach werde ich vielleicht bereit sein, selbst heimzukehren.«
»Na schön ... « Der Lockenkopf nickte einmal, dann sahen die hellen Augen sie wieder an. »Wenn ich erwachsen bin,
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