Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin
führenden Stellen der Auswärtigen Ämter vorzudringen, was allerdings nicht überraschte, denn ihre Heimatwelt hatte darin ja einen dominierenden Platz inne. Sie wußte, daß die Frauen auf Kharemough sich einer weitgehenden sozialen Gleichberechtigung erfreuten, denn dort galten von der Gesellschaft geschätzte Fähigkeiten und sozialer Status mehr als bloße physische Stärke. Doch das Auswärtige Amt, dem eine Unzahl von Rekruten von weniger erleuchteten Welten angehörten, schien auf die meisten regressiven und autokratischen Kharemoughi eine besondere Anziehung auszuüben – Mantagnes eingeschlossen. Von Hovanesse, dem Obersten Richter, wußte sie fast überhaupt nichts, doch seine Miene verriet wenig Ermutigendes. Sie ging zum Schreibtisch und setzte sich. Die vertraute Umgebung löste ihre Furcht ein wenig. Sie sah von Wand zu Wand und wünschte sich noch mehr als sonst, daß der Raum ein Fenster gehabt hätte.
Sie standen immer noch. »Sie fragen sich vielleicht nach dem Grund unseres Hierseins, Inspektor PalaThion«, sagte Hovanesse mit gnadenloser Banalität.
Sie rang den unerwarteten, fast übermächtigen Wunsch zu lachen nieder.
Wenn das nicht die Feststellung des Jahrtausends ist!
»Ja, das kann man wohl sagen, Euer Ehren.« Sie faltete die Hände über dem grauen Terminal ihres Schreibtischs und sah ihre Knöchel weiß hervortreten, während sie ein stummes Gebet sprach. Dann fiel ihr ein Päckchen auf dem Schreibtisch auf. Sie las ihren Namen und bemerkte abwesend, daß ihr die Handschrift unbekannt war. Auch ihr Name war falsch geschrieben.
Ich hoffe, es ist eine Bombe.
»Wie man mir berichtete, hat der ... frühere Kommandant LiouxSked heute mit seiner Familie Tiamat verlassen. Ist das richtig?«
»Ja, Euer Ehren. Sie sind abgereist.«
»Mögen die Götter mit ihnen sein.« Er betrachtete grimmig die alten, ausgetretenen Keramikkacheln des Fußbodens. »Wie konnte er seiner Familie und seinem guten Namen nur so etwas antun?«
»Euer Ehren, ich kann nicht glauben ...« Sie bemerkte Mantagnes' feindseligen Blick und verstummte.
Sie wollen es glauben, er war kein Kharemoughi.
Der Oberste Richter zog heftig an seinem engen Doppelkragen. Jerusha zupfte nervös an ihrem eigenen. Insgeheim war sie überrascht, ihn so mitgenommen zu sehen. Kharemoughis waren wie geschaffen für das Tragen von Uniformen, normalerweise machten die Neuhafener in formeller Kleidung einen ärmlichen Eindruck. »Wie Sie wissen, Inspektor, hinterläßt uns die ... Abreise des Kommandanten LiouxSked ohne offiziellen Kommandanten der Polizeitruppe auf Tiamat. Aus Gründen der Moral müssen wir diese Stelle selbstverständlich so bald wie möglich neu besetzen. Die Verantwortung dafür liegt bei mir. Aber bisher war es immer Teil der Hegemoniepolitik, lokalen Herrschern ein gewisses Mitspracherecht bei solchen Entscheidungen zuzubilligen, damit sie jemanden wählen können, mit dem sie gerne enger zusammenarbeiten würden.«
Jerusha lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Mantagnes' Gesichtsausdruck wurde noch finsterer.
»Die Schneekönigin hat ersucht – hat verlangt –, daß ich Sie zum neuen Kommandanten ernenne.«
»Mich?« Sie umklammerte die Tischkante, um nicht aufzuspringen. »Soll das ein Witz sein?«
»Ein monumentaler Witz«, sagte Mantagnes säuerlich. »Und wir sind die Teilhabenden.«
»Sie meinen, Sie werden ihrem Wunsch stattgeben? Ich soll diese Position akzeptieren?« Sie konnte die Worte kaum glauben, die sie ausgesprochen hatte.
»Selbstverständlich werden Sie die Stellung akzeptieren«, sagte Hovanesse tonlos. »Wenn das ihr Wunsch an die Polizeitruppe ist, die ihr Volk beschützt, dann soll er ihr erfüllt werden.« Aus seinen Worten konnte man deutlich die Meinung heraushören, Arienrhod habe sich damit ihre eigene Strafe erkoren.
Jerusha erhob sich langsam aus ihrem Sessel und beugte sich über den Schreibtisch. »Also befehlen Sie mir, Kommandant zu werden. Ich habe keine andere Wahl.«
Mantagnes verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Es hat Ihnen doch auch nichts ausgemacht, anstelle von Männern, die es verdient gehabt hätten, zum Inspektor befördert zu werden, als die Schneekönigin es verlangte.« Das war das erstemal, daß jemand unverhüllt darüber sprach. »Ich war der Meinung, Sie würden sich die Chance auf den Stuhl des Kommandanten schon aus dem Grund nicht entgehen lassen, weil Sie eine Frau sind.«
»Besser als überhaupt nie befördert zu werden, nur weil ich eine
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