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Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin

Titel: Tiamat-Zyklus 1 - Die Schneekönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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geheimnisvollen Fremden nicht vergessen machen, die sie von der Routine des nächtlichen Schreibtischdienstes weggeholt hatten, um sie in die finstersten Korridore der oberen Etagen zu führen. Sie konnte die Laute nicht vergessen, die sie angezogen hatten, keine menschlichen Laute, sondern Laute eines gemarterten
Dings,
bis sie schließlich die letzte Tür geöffnet und das Licht eingeschaltet hatte.
    Seit einem halben Leben hatte sie nicht mehr geschrien, aber in jener Nacht hatte sie den Schrei nicht unterdrücken können. Ein einziger Schrei der Verleugnung: Sie hatte dieses blökende, blutende Tier auf dem Fußboden des stinkenden Raumes nicht sehen wollen, das sich langsam selbst in Stücke gerissen hatte – diesen zerlumpte, schmutzstarrende Überrest eines menschlichen Wesens. Aber nicht irgendeines menschlichen Wesens, der Polizeikommandant von ganz Tiamat war es gewesen, der sein Gehirn mit einer Überdosis K'spag ausgebrannt hatte. Götter, selbst wenn sie bis zum Neuen Millennium lebte, niemals würde sie diesen Anblick vergessen können! Sie blinzelte zornig, als die Kinder vor ihren Augen verschwammen. Wie sehr sie auch versuchte, es zu vergessen, es klammerte sich an sie wie der Hauch des Todes und korrumpierte jede Bewegung und jeden Gedanken. Sie hatte genügend Scheußlichkeiten während ihrer Laufbahn gesehen, die auch die schwächste Frau abgehärtet hätten, aber wenn es einem der eigenen Leute passierte ... Sie hatte LiouxSked nie sonderlich gemocht, aber kein Mann verdiente eine solche Erniedrigung vor den Augen einer ganzen Welt. Obwohl er wahrscheinlich den Rest seines Lebens kaum mehr imstande sein würde, sich dessen zu schämen.
    Blieb immer noch seine Familie. Es war ihre, ihr von Mantagnes, dem neuen Befehlshabenden Kommandanten, übertragene Pflicht, seiner Frau bei den Vorbereitungen ihrer Abreise von Tiamat zu helfen. »Marika braucht in dieser Zeit den Beistand einer anderen Frau, Jerusha«, hatte Mantagnes liebenswürdig gesagt. Sie hatte auf ihre Zunge gebissen.
Nun, verdammt, vielleicht war es ja wirklich so.
    Sie hatte sich gefragt, wie sie imstande sein würde, Lesu Marika LiuoxSked und den beiden Mädchen gegenüberzutreten, wo die Erinnerung an die vergangene Nacht noch so frisch in ihr Gedächtnis eingebrannt war. Doch sie hatte, geschult durch lange Praxis, ihre Gefühle unter Kontrolle halten können, und das schien auch einen beruhigenden Effekt auf die von Kummer und Gram gebeugte Frau gehabt zu haben.
    Lesu Marika war während früherer Begegnungen immer distanziert und ablehnend geblieben – besonders, wenn LiouxSked anläßlich von Familienausflügen ins Labyrinth sie das glorifizierte Hausmütterchen spielen ließ. Aber wie die meisten der hier stationierten Truppen – sie selbst eingeschlossen –, waren LiouxSked und seine Familie von Neuhafen gekommen, daher konnten sie sich nun in ihrer gemeinsamen Muttersprache unterhalten, wie Fremde, die einander in einem fremden Land begegneten. Marika und die Kinder kehrten in die Heimat zurück, zu Familie und Freunden (der Kommandant begleitete sie, um den Rest seines Lebens in einer Anstalt zu verbringen, aber davon sprachen sie nicht). Jerusha sprach bedacht und sehnsüchtig von der Welt, nach der sie sich immer gemeinsam gesehnt hatten, von der sonnigen Hitze des Tages, den vitalen, lebendigen Menschen, der Sternenhafenmetropole und dem Handelszentrum von Miertoles lo Faux – wo sie erstmals ein Fest anläßlich des Premierminister-Besuchs erlebt hatte und von seiner Erscheinung beeindruckt gewesen war. Wo sie ihre Träume von anderen Welten geträumt hatte .. .
    Jerusha spürte, wie jemand leise an ihre Seite trat und blickte beiseite und dann hinab auf die zehnjährige Lesu Andradi, die jüngere der beiden Töchter LiouxSkeds. Sie war ein aufgewecktes, lebhaftes Kind, ganz im Gegensatz zu ihrer stillen und in sich gekehrten Schwester, und Jerusha hatte einen Narren an ihr gefressen. Die gelegentliche Erkenntnis, daß das Mädchen an ihrer Hand mit derselben Ehrfurcht zu ihr aufsah, mit der sie selbst zu ihrem uniformierten Vater aufgesehen hatte, machte ihre peinliche Tätigkeit um einiges leichter.
    Nun imitierte Andradi ihre eigene Pose am Fenster ohne nachzudenken – ein kleines, zerbrechliches Wesen in einem formlosen grauen Gewand, die Stirn mit Asche beschmiert. Die Familie trug Trauer, als wäre LiouxSked bereits gestorben. Doch die Götter waren nicht so freundlich ...
Götter, verdammt!
Jerusha preßte

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