Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
schöne Szene auf sich einwirken ließ.
Hinter ihnen donnerten die Wellen an den Strand; so weit das Auge reichte, schwere, silbergraue Wogen mit weißen Schaumkronen, in Aufruhr versetzt durch die gewaltigen Ströme von Schmelzwasser, die von den zurückweichenden Gletschern ins Meer drängten. An dieser Stelle war die See immer noch kalt und unbarmherzig; gigantische. Brecher griffen die Steilküste an, die sich meilenweit nach Norden hinzog. Vom Schnee befreit, das Sonnenlicht widerspiegelnd, ragten die Berge sonst als schroffe Silhouette am diesigen Horizont auf; heute jedoch waren sie in Nebel gehüllt und zogen sich wie ein Rauchschleier durch die sanft schimmernde Luft, ein irrealer, unerreichbarer Traum.
Wieder beobachtete sie ihren Gatten und die Kinder, die drunten am Strand umhertollten. Sie tanzten mit ihren eigenen Schatten, und schrien vor Entzücken, als die Sonnen endlich den Dunstschleier durchbrachen und, umgeben von schillernden Regenbogen, einen strahlend hellen Tag verkündeten. Lebhafte, bittersüße Erinnerungen stiegen in ihr auf; sie dachte an die Zeit zurück, als sie und Funke noch lachend am Strand entlanggelaufen waren. Regungslos stand sie da, gefangen in ihren Gedanken, sah den Menschen drunten am Strand zu und beobachtete, wie das Meer allmählich die Farbe wechselte und heller wurde.
Der trübe nördliche Ozean nahm nie die klaren Grün-und Blautöne an, die sie vom Sommermeer her kannte; aber vielleicht waren auch nur in ihrer Erinnerung die Himmel klarer, die Regenbogen prächtiger, das Wasser reiner und die Farben intensiver. Selbst wenn es keine Herrin gab, deren Geist das Meer erhellte, wurde das Wasser mit jedem Tag wärmer; das Land ergrünte und erwachte zu neuem Leben: Schritt für Schritt steuerten diese Welt und ihr Volk auf eine bessere Zukunft hin. In tiefen Zügen atmete sie die würzige Luft ein, die nach Salz, Feuchtigkeit und jungem Grün schmeckte.
Leise, beinahe zögerlich, sagte eine Stimme hinter ihr: »Mond.«
Sie drehte sich um und sah Jerusha PalaThion, die sie offenbar nur widerstrebend in ihren Betrachtungen störte. Mittlerweile hatte sie sich an Jerusha gewöhnt wie an ihren eigenen Schatten; wenn sie nicht bei ihr war, fehlte ihr etwas. »Schau sie dir an«, sagte sie und zeigte auf den Strand. Doch neidisch lächelnd beobachtete Jerusha bereits das Pferd-und-Reiter-Spiel.
»Ich bin froh, daß du mitgekommen bist«, sagte Jerusha und blickte zum Haus hinauf. Sie rieb sich die Arme, als fröstelte sie trotz des Sonnenscheins und ihrer Bekleidung aus Wolle und schwerem Kley-Leder.
»Und ich freue mich, daß du uns begleitet hast.« Mond legte ihre Hand auf Jerushas Arm und sah ihr ins
Gesicht. Ihr fiel auf, wie sehr sich die Polizeichefin verändert hatte, sobald sie aus der Stadt heraus waren; Sie wirkte viel umgänglicher und friedvoller. Mit ihrer rustikalen Kleidung, das schwarze Haar entweder offen oder nach einheimischer Sitte zu einem Zopf geflochten, paßte sie in dieses Land. Auch sie selbst, Mond, hatte an diesem Ort aufgehört, die Sommerkönigin zu sein; hier war sie nur noch sie selbst, ein Mensch, der frei durchatmen und Dinge tun konnte, die nur ihr etwas bedeuteten. »Hier kann ich mich regenerieren«, sagte sie mit einem Blick auf den Strand und das Meer.
Jerusha folgte ihrem Blick. »Ja«, sagte sie, »als ich noch Kommandantin bei der Hegemonischen Polizei war, ging es mir genauso.« Sie seufzte und schaute wieder zum Haus empor. »Ich wußte, daß Miroe in Schmuggelgeschichten verwickelt war. Aber fünf Jahre lang verlebte ich hier meine glücklichsten Augenblicke.« Aus ihren Worten hörte Mond Sehnsucht und Enttäuschung heraus.
»Und jetzt nicht mehr?« fragte sie leise.
Jerusha schüttelte den Kopf. Mond hatte sich schon gewundert, wieso Jerusha nicht häufiger hierherkam. Ihre Arbeit in der Stadt war anstrengend und zeitraubend, und sie und ihr Mann waren viel zu häufig getrennt. Mond hatte ihr oft geraten, sie solle sich mehr Freizeit gönnen, aber Jerusha lehnte stets ab.
Jerushas herbe Züge wurden weich, als sie die Kinder beim Spielen beobachtete. Das Leben auf einer fremden Welt, dazu vier Fehlgeburten, hatten ihre Spuren hinterlassen. Mond spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte und Kälte in ihre Seele einzog, als sie sich vorstellte, sie könnte eines ihrer Kinder verlieren. Sie sah Jerusha an und bemerkte die tiefen Sorgen, die sie bewegten, und die das Lächeln nur oberflächlich vertuschte. Plötzlich begriff
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