Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
Sie weigerte sich, bei ihrem eigenen Volk zu wohnen, das sich in der unteren Stadt häuslich niedergelassen hatte.
Nun jedoch, mitten in der Nacht, wanderte sie durch die Hallen des Palastes wie ein unruhiger Geist, auf der Suche nach Antworten.
»Wieso?« wiederholte er.
Sie berührte ihren Leib, in dem neues Leben heranwuchs. »Deshalb«, erwiderte sie.
Er nickte ergeben, obwohl er nichts verstand. Er führte sie herum und zeigte ihr eine Halle nach der anderen, während er ihr die Bedeutung der einzelnen Zimmer und Einrichtungen erklärte. Viel gab es zu sehen: Schönes, Gewöhnliches, Perverses, Exquisites. In jedem Raum machte er Licht und enthüllte vor ihren Augen die Türen mit den Spitzbögen, die muschelförmigen Dekorationen und die Wendeltreppen, die den Eindruck vermittelten, sie bewegten sich durch ein spiralig geformtes Schneckenhaus.
Die importierten technischen Apparaturen, die er anfangs für Wunderdinge gehalten hatte, lagen nun überall herum wie die Panzer toter Insekten. Ehe die Außenweltler Tiamat verließen, hatten sie sie unbrauchbar gemacht. Doch der Palast und die Stadt Karbunkel überdauerten jeden Wechsel, unabhängig, den eigenen Gesetzen gehorchend und gespeist von einer nie versiegenden Energiequelle. Fresken, Gemälde, Gobelins und Spiegel schmückten die mit Perlmutt beschichteten Wände der einzelnen Säle. Die Dekorationsstücke waren im Lauf der Jahrhunderte von den verschiedenen Schneeköniginnen zusammengetragen worden, der Palast selbst jedoch blieb unverändert. Unzählige Male hatte Funke sich gefragt, wer die Erbauer dieses Palastes gewesen sein mochten. Und während er nun mit Mond durch die Hallen schritt, fühlte er mit beinahe erschreckender Klarheit, daß etwas vollkommen Neues auf sie wartete.
Er zeigte Mond die Zimmerflucht, in der er früher gewohnt hatte. Überall lagen dort technische Geräte herum, die Arienrhod ihm zu seiner Unterhaltung geschenkt hatte. Sein ganzes Leben Lang hatte er sich brennend für die Technik der Außenweltler interessiert, jenem Volk, dem sein Vater entstammte. Auf der Suche nach etwas, das ihm zu fehlen schien, war er nach Karbunkel gelangt. Doch die neue Umgebung hatte seine innere Leere nicht gefüllt. Weder die Einwohner Karbunkels, noch die Stadt selbst, noch die Apparaturen, die er in seinem Wissensdurst zerstört hatte, um ihre Funktionsweise zu ergründen, konnten ihm das geben, wonach ihn verlangte. Er hatte lediglich die Erkenntnis gewonnen, daß die Außenweltler größten Wert darauf legten, die Tiamatianer in einem Zustand der Unwissenheit und Abhängigkeit zu halten.
Er führte Mond durch den geheimen Gang, der seine Suite mit Arienrhods Privatgemächern verband. Mond schaute sich im Schlafzimmer der Königin um. Ein großes Fenster gewährte einen phantastischen Ausblick über das Meer; die Wände und die gesamte Einrichtung schimmerten wie bleiches Perlmutt und schienen aus polierter Muschel zu bestehen. Funke hatte nie herausgefunden, ob es eine raffinierte Imitation war, oder ob es auf irgendeinem Planeten – vielleicht sogar auf Tiamat selbst – Schalentiere von so enormer Größe gab.
Mond betrachtete das Bett, dessen Kopfende aus vergoldeten und mit Edelsteinen verzierten Muscheln bestand. Funke dachte daran, daß Arienrhod ihm beim Aufwachen immer vorgekommen war wie die Meeresmutter, die aus glitzernden Wellen emporsteigt. Aus Furcht, von ihr ausgelacht zu werden, hatte er es ihr nie gesagt.
Mond sah ihn mit Augen an, in denen eine dunkle Neugier lag. Dann wandte sie sich abrupt ab und suchte eilig nach dem Ausgang.
Plötzlich blieb sie verblüfft stehen und starrte auf ein Bild von Arienrhod an der Wand. Die Schneekönigin trug ein Kleid, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Es war ein gemaltes Porträt und kein dreidimensionales Hologramm, doch die Königin wirkte unglaublich lebendig, es war, als habe der Künstler ihre Seele eingefangen. Funke hatte das Gefühl, die Königin blicke ihn und Mond aus mitfühlenden, drohenden Augen an.
Langsam ging Mond nach vorn, bis sie die Hand der Königin berühren konnte. Wie hypnotisiert stand sie vor dem Bild. Funke sah Monds erhitztes, angespanntes Gesicht und schaute dann in Arienrhods bleiches Antlitz, das einen wissenden, erleuchteten Ausdruck trug, als habe sie soeben ein Geheimnis über sie beide erfahren.
Er stellte sich hinter Mond und umschlang sie mit den Armen, während sie fortfuhr, das Porträt anzustarren, das ihr Spiegelbild hätte sein
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