Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt

Titel: Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
Vom Netzwerk:
schien sich nicht schlüssig zu sein, ob sie gehen oder bleiben sollte.
    »Seit meiner Rückkehr nach Kharemough ist dies das erste Mal, daß ich meine Güter wiedersehe ... Das letzte Mal beschritt ich diesen Pfad, bevor ich vor vielen Jahren in den Polizeidienst eintrat und meine Heimatwelt verließ«, erzählte er. Sie setzte sich auf die Bank und sah zu ihm auf. »Als ... als Sie hierherkamen, um zu beten, was haben Sie da gesagt? Ich habe vergessen, wie man zu seinen Ahnen spricht.«
    Sie schüttelte den Kopf und betrachtete den Schrein. »Ich wußte auch nicht, was ich sagen sollte, Gundhalinu-sathra.«
    Er nickte und ging den Pfad allein weiter. Durch die stets offenstehende Tür betrat er das Innere des Schreins. Das Licht, das dort herrschte, versetzte ihn in Staunen. Er hatte die Atmosphäre ganz vergessen – wie so vieles andere. Es gab kein einziges Fenster, das Tageslicht schimmerte durch transparente Keramikwände und ließ die zahllosen, kaum zu entziffernden Namen, die in die Scheiben einziseliert waren, als Schattenmuster hervortreten.
    Die Aufzeichnungen der einzelnen Familienmitglieder reichten mindestens anderthalb Jahrtausende zurück, und zu seiner Überraschung stellte er jetzt zum erstenmal fest, daß seine Sippe tatsächlich beanspruchte, von Ilmarinen abzustammen. Mit dem Finger zog er den Namenszug nach und verspürte ein Prickeln, wie bei einem leichten elektrischen Schlag.
    Er schlenderte die Wände entlang, berührte die eingeritzten Zeichen und verfolgte seinen Stammbaum bis in die Gegenwart – als er die Namen seiner Eltern und seiner Brüder erreichte, blieb er stehen. Sein eigener Name war der einzige, der mit roter Farbe hervorgehoben war – er war der letzte Überlebende seines Geschlechts. Lange Zeit starrte er darauf.
    Schließlich wandte er sich ab und betrachtete die schmale Sitzbank in der Mitte des Raums eine schlichte weiße Platte, nun fleckig von Staub und Vernachlässigung. Daneben standen eine zylindrische Deckelurne aus dem gleichen weißglänzenden Material und ein Behälter mit Weihrauch. Widerstrebend ging er zur Bank und setzte sich. Er nahm ein Weihrauchstäbchen und hielt es wie eine Blume zwischen den Händen, ehe er es mit dem Daumennagel entzündete. Die plötzlich hochzüngelnde Flamme blies er aus und ließ den Rauch aufsteigen, der ein bittersüßes Aroma verströmte. Bei dem altvertrauten Duft drängte die Vergangenheit auf ihn ein; er erinnerte sich, wie er als Kind still auf eben dieser Bank gesessen hatte, während sein Vater, sein Erster Ahne, das Oberhaupt der Familie Gundhalinu, betete.
    Aber die Gebete seines Vaters waren stumm, nie hatte er erfahren, was er sagte ... Sie halfen ihm jetzt nicht weiter, als er versuchte, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Wieder schaute er die Wände an und rollte das Weihrauchstäbchen zwischen seinen Handflächen; der Rauch stieg ihm in die Augen und lockte falsche Tränen der Trauer hervor.
    An diesem Ort empfand man Stolz und Traditionsbewußtsein; hierher kam man, um über die Verdienste seiner eigenen Familie zu meditieren; um die vollkommene Ordnung zu preisen, in der jeder seinen Platz kannte, und in der man selbst die Spitze einnahm ... und das Ganze für gerecht hielt.
    Doch an dieses Prinzip glaubte er schon lange nicht mehr. Was sollte er tun? Um Verzeihung bitten? –
Für wen? –
Für sich selbst, weil er seinen Glauben verloren hatte – oder weil er die Wahrheit erkannte? Für seinen Vater, der zu schwach war, um zu handeln? Für seine perfiden, habgierigen Brüder? Für ihren schändlichen, erniedrigenden Tod?
    Das Weihrauchstäbchen fiel ihm aus den Händen und qualmte auf dem Boden weiter.
Ich sollte weinen.
Er war der letzte seiner Linie, und er führte ein verlogenes Leben. Aber er konnte weder weinen noch trauern, er empfand überhaupt nichts. Er entsann sich des Augenblicks, als er vom Tod seines Vaters erfuhr – das war auf einer fernen Welt gewesen, Tiamat. Er entsann sich an seine Mutter, deren Gesicht er nur noch verschwommen vor Augen hatte, wie sie ihn zum Abschied küßte und ihn im rosenfarbenen Licht des Morgens alleinließ. Er stellte sich seinen alten Vater vor, wie er am geschnitzten Kamin in der Haupthalle stand, die Augen wie Granate, und seinen jüngsten Sohn drängte, sich widerrechtlich die Positionen seiner Brüder anzueignen, die Ideale zu verhöhnen, die zu verehren man ihm beigebracht hatte ... Zum Schluß sah er wieder seine Brüder vor sich, an Haken hängend,

Weitere Kostenlose Bücher