Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
der Grund, weshalb Mama Arienrhod haßt?«
»Das glaube ich nicht.« Jerusha massierte sich die Arme. »Beide haben deinen Vater geliebt, sie konnten nichts dafür.«
»Weil sie ein und dieselbe Person sind«, sagte Ariele mit gepreßter Stimme.
»So einfach ist das nicht«, hielt Jerusha ihr entgegen. »Sie wollten das gleiche – deinen Vater, und die Unabhängigkeit Tiamats von der Hegemonie –, nur schlugen sie unterschiedliche Wege ein, um ihre Ziele zu erreichen.«
Arieles Gesicht verzog sich vor Abscheu, und Jerusha wußte, daß sie nicht mehr an sie herankonnte. Barfuß lief sie den Pier entlang, und als die den Strand erreichte, fing sie an zu rennen. Ariele ging erst dann langsamer, als sie wußte, daß ihr keiner mehr hinterherrufen konnte.
Nach einer Weile blieb sie stehen, blickte über die Bucht und hielt Ausschau nach Silky. Mit einem schrillen Pfiff versuchte sie, den Merling anzulocken. Silky kam aus dem Wasser und tappte auf seinen breiten Flossen schwerfällig zu ihr hin, während der Kopf auf dem langen, sehnigen Hals neugierige Nickbewegungen vollführte. Ariele bückte sich und tätschelte ihr Fell; in ihr kaltes Herz kehrten wieder Wärme und Liebe ein, und ihr Kopf füllte sich mit freundlichen, hellen Gedanken, die von keinen Schatten aus der Vergangenheit getrübt wurden.
»Kannst du das hören, meine süße Silky?« fragte sie. »Mein dummer Bruder versucht, deine Musik mit seiner Flöte nachzuahmen. Komm mit, wir gehen zu ihm und zeigen ihm, was eine richtige Melodie ist!« Sie ging weiter, langsamen Schrittes, damit Silky mitkam. Unter ihren Füßen glänzte der Sand, und gelegentlich hob sie einen Achatkiesel auf, der sich zwischen den angeschwemmten Steinen und Muscheln befand.
Vor ihnen erhob sich, wie eine Burg, ein erodierter Sandsteinbrocken. Als Kinder hatten sie diese Felsformation ›die Burg‹ getauft und so getan, als stamme sie aus den Geschichten, die Jerusha ihnen erzählte. Noch immer hockte Tammis gern in den von der Sonne erwärmten Nischen (sie selbst übrigens auch) und spielte auf seiner Flöte, so wie jetzt. Vermutlich war Merovy bei ihm, verzückt jeder einzelnen Note lauschend und an seinen Lippen hängend, wie eine liebeskranke Närrin.
Als Kinder hatten sie gern miteinander gespielt. Aber jetzt hatte Ariele keine Geduld mehr mit dem jüngeren Mädchen, und auch ihr vorsichtiger, schwermütiger Bruder ging ihr mit seiner Musikbesessenheit auf die Nerven. Sie war davon überzeugt, daß er nur spielte, um Da zu beeindrucken; dabei war und blieb er ein langweiliger, greinender Knilch.
Am Fuß der Burg blieb sie stehen und lauschte den reinen, klaren Tönen der Flöte; es war eine Mischung aus traditionellen Sommerweisen und freien Improvisationen, die Fragmente aus den Gesängen der Mers enthielten.
Die Merslieder hatte sie ihm beigebracht, und die verschiedenen Motive verflochten sich zu einer überraschend harmonischen – und, wie sie widerstrebend zugeben mußte –, schönen Melodie. Silky hob den Kopf und stimmte einen leisen Singsang an; sie brach ab, pendelte mit dem Kopf und begann von neuem, wie wenn sie die Musik fortsetzen wollte, sich aber über die Struktur nicht im klaren sei.
Um sie zu ermutigen, fing Ariele an zu singen und zu pfeifen, bis sich hoch über ihnen ein Kopf zeigte. Ariele blickte nach oben und sah Merovys langes, braunes, lockiges Haar, das blasse Gesicht und die grauen, dichtbewimperten Augen. Der Kopf tauchte wieder ab, und die Musik verstummte.
Nun spähte Tammis über den Rand des Felsens; das Sonnenlicht zauberte rotgoldene Reflexe in sein dunkelbraunes Haar, während er halb ärgerlich, halb konzentriert ihrem Gesang lauschte. Er wurde wütend, als er merkte, daß Ariele nur seine Melodie parodierte. »Geh weg!« sagte er. »Du störst mich.«
»Wirklich?« Kokett legte Ariele den Kopf schräg. »Ich dachte, du hättest nur auf der
Flöte
gespielt.« Sie lachte und vollführte anzügliche Gesten. »Komm mit, Silky, wir lassen das Liebespaar in Ruhe ...« Im Weiterschlendern hob sie Achate und Karbunkel auf, während Silky ihr zögernd folgte.
»Bei den Augen der Herrin!« Tammis lehnte sich in die Felsmulde zurück, wo er gelegen und Flöte gespielt hatte; Merovys Kopf ruhte auf seinem Schoß. Mit hochrotem Gesicht starrte er seiner Schwester hinterher. »Es tut mir leid«, sagte er, ohne Merovy dabei anzusehen. »Warum kann sie mich nicht in Frieden lassen? Immer macht sie mir alles kaputt.« Er blickte auf
Weitere Kostenlose Bücher