Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
sich vielleicht wünschte, der Welt anzugehören, die sie adoptiert hatte. Vermutlich würde sie es nie erfahren, was den Merling innerlich bewegte – oder ob ihn überhaupt etwas bewegte. Sie konnte ihn ja nicht fragen. Doch seit sie sich um Silky kümmerte, sehnte sie sich danach, im Ozean zu leben, ihre Haut gegen ein glattes Fell einzutauschen, so daß sie das Meer nie mehr zu verlassen brauchte.
Während sie dies dachte, merkte sie, daß sie bald wieder auftauchen mußte; ihre Lunge brannte vor Sauerstoffmangel, und sie schwamm nach oben. Erst dann spürte sie, wie erschöpft und durchfroren sie war. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als nachzugeben und in die Welt zurückzukehren, in die sie gehörte, auch wenn sie sich dort fremder vorkam als in diesem nassen Element.
Jerusha PalaThion stand neben ihrem Gemahl an dem grauen, alten Dock in der Bucht. Die Tide umspülte bis zu den Knöcheln ihre hohen Stiefel aus Kleyleder, während unruhige kleine Wellen den Pier benetzten. Hinter ihnen waren Plantagenarbeiter dabei, einen neuen Pier zu bauen, der auf Pontons ruhte und sich dem steigenden Wasser anpaßte. Jerusha staunte; in der kurzen Zeit, in der sie hier standen, war das Wasser um vier Zoll gestiegen; das lag an den gewaltigen Strömen, die von den schmelzenden Gletschern ins Meer flossen, und an dem abschmelzenden Treibeis.
Sie konnte es kaum glauben, daß sie nun schon dreißig Jahre lang auf Tiamat lebte, mehr als die Hälfte ihres Lebens. Ihr Körper hatte sich an den fremdartigen Takt dieser Welt gewöhnt und sehnte sich nicht mehr rastlos nach dem zirkadianischen Rhythmus von Newhaven.
Jetzt fand sie einen Tag wie diesen so mild, daß sie sich ohne mehrere Lagen von Pullovern dem Wind aussetzen konnte.
Auch bedrückte sie der kalte, grüne; unerbittliche Ozean nicht mehr mit seiner Allgegenwärtigkeit, die das Sommervolk dazu bewogen hatte, ihn als Gottheit zu verehren. Sie lebte in Harmonie mit Tiamats Gezeiten und Zwillingssonnen, und ohne Staunen betrachtete sie den nächtlichen Himmel, der beinahe so hell war wie die immer länger werdenden Tage.
Sie schwelgte nicht mehr in Erinnerungen an Newhayens honiggoldene Atmosphäre, an die Tage voller Hitzeglut und den gleißenden Himmel; fast vergessen waren die Nächte mit ihrer tröstlichen Kühle, wenn sich die Höfe mit dem Duft nachtblühender Blumen füllten. Die leise Stimme, die sie früher tagtäglich gefragt hatte, wann sie endlich einsehen würde, daß es töricht war, auf diesem sonderbaren Planeten zu bleiben, war verstummt; sie wünschte sich nicht mehr, in ihre Heimat zurückzukehren. Nach Jahren der Schlaflosigkeit, verursacht durch den unregelmäßigen Rhythmus von Tag und Nacht, nach einer Zeit des Zweifelns und des Bereuens, fand sie nun des Nachts ihre Ruhe. Sie schmiegte sich dichter an die kräftige Gestalt ihres Mannes und spürte, wie er den Arm um sie legte und sie zärtlich an sich drückte.
Sie kehrte in die Gegenwart zurück, als Miroe plötzlich mit dem Finger zeigte, und das Wasser zu ihren Füßen mit Luftblasen zu sprudeln begann. Neugierig beugte sie sich über das Geländer und spähte nach unten; in diesem Augenblick schnellten zwei Köpfe aus dem Wasser – ein menschlicher und ein anderer: es waren Ariele Dawntreader und Silky. Lachend schüttelte sich Ariele das Haar zurück und sog tief die Luft ein.
»Ariele«, sagte Miroe. »Bei allen Göttern – du benutzt ja kein Tauchgerät!« Er deutete auf ihre Sachen, die dort lagen, wo das Dock einen scharfen Knick machte. »Verdammt noch mal, Mädchen, habe ich dich nicht oft genug gewarnt, daß du erfrieren oder ertrinken kannst?«
»Mir passiert schon nichts, Onkel; es ist herrlich im Wasser! Und Silky paßt schon auf, daß mir nichts zustößt, nicht wahr, Silky, mein Liebling?« Sie stieß einen trillernden Pfiff aus und wiederholte eine Passage aus einem Mergesang, der ihnen mittlerweile vertraut war wie die menschliche Sprache. Sie umarmte den halb ausgewachsenen Merling. Silky kuschelte sich an sie, rieb ihre Nase an der von Ariele und nieste plötzlich. Lachend ließ Ariele den Merling los. Geschmeidig stemmte sie sich am Pier hoch; sie trug nichts außer ihrer tropfnassen Unterwäsche.
Als Jerusha die Mimik ihres Gatten sah, verbiß sie sich ein Schmunzeln. »Ich trainiere meine Ausdauer, Onkel Miroe«, erklärte Ariele. »Im Augenblick sind keine anderen Mers in der Bucht, ich konnte also nichts aufnehmen.« Vor Kälte bibbernd und mit blauen
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