Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
glaubte sie, sie könnten vielleicht recht haben.
BZ ...
Sie schloß die Augen und sagte in Gedanken den Namen auf wie ein ungeliebtes Gebet. Sie erinnerte sich an den Klang seiner Stimme, denn erst gestern hatte er mit ihr gesprochen; er hatte sie hineingerufen in das glänzende Meer aus Licht, Geräuschen und Körperlosigkeit, in dem sie sich seit nunmehr fast vier Jahren heimlich trafen. Er rief sie ein letztes Mal, bevor er persönlich mit der Hegemonie in Tiamat eintreffen würde. Ihre flüchtigen, zarten Begegnungen, sein Zuspruch und ihre Erinnerungen, hatten ihr die Kraft gegeben, die ständig schwieriger werdenden bürokratischen Prozeduren zu verkraften, und die dauernden Anfechtungen an ihre Entschlüsse und Überzeugungen abzuwehren. Nun endlich kehrte er zurück.
Was
wünschte sie sich? Worauf hoffte sie? Was versprach sie sich von ihren Wiedersehen? –
Während sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, wie es sich verändert haben mochte, schaltete sie vollkommen von ihrer Umgebung ab. Das Stimmengewirr erstarb zu seinem vagen Gesumm.
Sie fragte sich, ob sie Gundhalinu überhaupt wiedererkennen würde, wenn sie ihn sähe. Sie hatte ihn nur eine kurze Zeitlang gekannt, und das war lange her. Es fiel ihr schwer, sich an ihn zu erinnern, vielleicht gerade deshalb, weil er so gänzlich anders ausgesehen hatte als alle Leute, die sie damals kannte, oder denen sie später begegnet war. Seine Stimme, sein Lächeln, seine zärtlichen Liebkosungen – gehörten sie zu einem wirklichen Menschen oder waren sie nichts weiter als Schatten von Träumen? Als seine Rückkehr noch unmöglich schien, hatte sie sich in die Erinnerungen geflüchtet, um den Belastungen und Enttäuschungen ihres Alltags zu entgehen. Wenn sie sich in ihrer Phantasie die gemeinsam verbrachte Nacht ausmalte, so war dies ein Ventil für angestaute Emotionen gewesen. Nun jedoch, wo er wieder in ihre Realität eintrat, merkte sie plötzlich, daß es für sie keine Fluchtmöglichkeit mehr gab.
Sie schüttelte den Kopf und befreite sich von den Bildern, die ihre Gegenwart erdrückten und sie daran hinderten, aktuelle Probleme zu lösen. Funke drehte sich auf seinem Platz um und sah sie mit ungeduldigen, fragenden Augen an. Indem sie seinen Blick erwiderte, schob sich unverhofft ein Phantombild vor sein Gesicht; sie war verwirrt, es kam ihr vor, als sei in Wahrheit
er
der Fremde, und sie könne sich kaum an ihn erinnern.
Betroffen gestand sie sich ein, daß es nicht ihre Phantasien gewesen waren, die sie von ihrem Gatten entfremdeten und sie dazu trieben, Trost bei einem Schatten zu suchen. Die Tragödie im Schacht hatte den Bruch zwischen ihnen offen zutage treten lassen; etwas, das einmal heil und vollkommen schien, und das sie höher einschätzte als ihr eigenes Leben, war ihr entglitten. Sie verstand nicht, wie es dazu kommen konnte, obwohl sie die Entwicklung seit Jahren beobachtet hatte. Sie wußte nicht einmal, an welchem Punkt ihres Lebens die entscheidende Wende eintrat – oder ob die Weichen bereits in dem Augenblick gestellt wurden, als sie den Ruf der Sibyllenstimme vernahm.
Sie sah zu Tammis hinüber, der neben Danaquil Lu saß, seinem Schwiegervater; die Kleeblätter auf ihren Hemden schimmerten und schienen sie anzublinzeln wie zwei Augen. Tammis' dramatische Berufung und Initiation hatte nicht nur ihre Ehe endgültig zerstört, sondern auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn verschlechtert. Selbst Tammis' Hochzeit mit Merovy hatte nichts daran geändert; nach dem Fest kam Funke ihr distanzierter und abweisender vor denn je. Seine Blicke verrieten ihr, daß er nach dem Grund dafür nicht befragt werden wollte, und auch an Tammis kam sie nicht herat
Zwei Plätze von ihr entfernt saß Jerusha PalaThion. Sie ließ immer absichtlich den Sitz neben Mond frei, damit sie an den Mann erinnert wurden, den sie beide so schmerzlich vermißten. Jerushas Gesicht war von Kummer, Einsamkeit und Zweifel gezeichnet, obwohl sie sich nicht anmerken ließ, wie es in ihrem Inneren aussah. Nachdem Jerusha ihr Leben lang unter Fremden gelebt hatte, zuerst bei den Außenweltlern und dann bei den Tiamatanern, behielt sie ihre Gefühle für sich. Mond wünschte sich, sie könnte etwas für die Frau tun, die seit so vielen Jahren ihre beständigste Freundin war, obwohl sie selbst Hilfe brauchte. Als Mond sich dazu aufraffte, mit ein paar Worten die Ratssitzung zu eröffnen, rang sich Jerusha ein gequältes Lächeln ab.
»Sommer- und
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