Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
in die Vergangenheit genauso unmöglich schien wie eine Vision der Zukunft.
Die Intelligenz der Mers zeigte sich auf eine sonderbare Weise. Außer den Menschen hatten diese Kreaturen keine natürlichen Feinde; sie schienen weder eine materielle Kultur zu kennen noch den Wunsch zu haben, eine zu schaffen. Sie lebten in einem ewigen Jetzt, im stets gleichbleibenden Ozean. Sie schwammen in der Zeit wie in einem Meer, umgeben von einem Strom sterblicher Wesen, deren flüchtige Existenz im Gegensatz zu ihrer eigenen Unvergänglichkeit stand.
Viele Menschen verstanden diesen Unterschied nicht, entweder, weil ihr Begriffsvermögen nicht ausreichte, um eine Brücke zu einer fremden Denkweise zu schlagen, oder weil sie es vorzogen, die Andersartigkeit zu ignorieren. Es war einfacher zu glauben, die Mers machten die Ozeane dieser Welt zu einem Jungbrunnen; die reichsten und mächtigsten Leute der Hegemonie zahlten jeden Preis, um von dieser Quelle zu kosten, selbst wenn es bedeutete, daß sie Blut trinken mußten.
Der silbrige Extrakt, den man aus dem Blut geschlachteter Mers gewann, wurde euphemistisch Wasser des Lebens‹ genannt, und wenn man ihn täglich zu sich nahm, stoppte er den körperlichen Alterungsprozeß.
Bis jetzt hatte man den Extrakt noch nicht synthetisch herstellen können, die Formel für das technisch manipulierte Virus war mit dem Verfall des Alten Imperiums verlorengegangen. Außerhalb seines Wirtskörpers starb das Technovirus sehr schnell ab, egal, wie behutsam man damit umging. Und selbst die Mers starben, wenn man sie von ihresgleichen trennte und auf andere Welten verfrachtete. Aber man brauchte einen gewissen Vorrat vom Wasser des Lebens, um die ständige Nachfrage zu befriedigen. Arienrhod, und alle Schneeköniginnen vor ihr, hatten die Jagd auf Mers gestattet, um den Nachschub des Jugendelixiers zu sichern; das Wintervolk profitierte von dem Handel, und unzählige Mers mußten sterben.
Doch endlich herrschte wieder das Sommervolk. Die Außenweltler mit ihrer unersättlichen Gier hatten Tiamat verlassen. Den Mers blieb eine Schonfrist, während der sie sich langsam wieder vermehren und sich von dem erlittenen Unrecht erholen konnten.
Einer der Mers tauchte ab und unterbrach die Konversation, die Miroe zu führen versuchte. Die beiden anderen blieben noch ein Weilchen, tauschten Blicke und sahen kurz zu Miroe herauf, bevor auch sie im Wasser versanken, schrille Pfiffe ausstoßend, die ein Abschiedsgruß oder auch nur ein bedeutungsloses Geräusch sein konnten.
Miroe beugte sich über die Reling und starrte auf die leere Wasserfläche. Er fluchte enttäuscht. »Was, zum Teufel? Wieso sind sie auf einmal verschwunden?«
Jerusha zuckte die Achseln. »Vielleicht hast du sie durch irgendwas verärgert.«
»Das ist unmöglich«, versetzte er gereizt. »Dazu beherrsche ich ihre Sprache viel zu wenig, obwohl ich mich schon so lange damit beschäftige.« Die Mers hatten ihn bereits fasziniert, als sie beide sich noch nicht kannten, und bevor sie sich sicher sein konnten, daß diese Geschöpfe intelligente Lebewesen waren. Als Jerusha Miroe das erstemal traf, hatte er Geschäfte mit Techschmugglern gemacht und eine Ausrüstung gekauft, die ihm helfen sollte, die Jagd auf die Mers zu unterbinden. Noch ehe Mond Dawntreader ihm während eines Sibyllentransfers die Wahrheit mitteilte, hatte er an die Intelligenz der Mers geglaubt. Seit vielen Jahren versuchte er, ihre Sprache zu dechiffrieren, denn die Mers waren nicht imstande, menschliche Laute nachzuahmen.
»Vielleicht fanden sie das Gespräch langweilig«, mutmaßte Jerusha.
Miroes umwölkte Stirn glättete sich, als er sie ansah. »Ich glaube fast, du hast recht«, sagte er. »Verflixt noch mal! Heute verstehe ich sie genausowenig wie vor zwanzig Jahren. Mit einer heftigen Bewegung schaltete er den Recorder ab. »Sie wollen gar nicht reden, sie wollen nur singen. Man erkennt harmonische Strukturen, ihre Gesänge folgen einem logischen Muster, aber es läßt sich kein
Sinn
herauslesen. Für mich bleiben es Geräusche.«
Er hatte Sequenzen isoliert, die in der Sprache der Mers bestimmte Objekte oder Handlungen bedeuteten; doch solche sinnvollen Tonfolgen waren selten. Was die Tiamataner als Mers-Lieder bezeichneten, waren wunderschöne, aber abstrakte Gesänge, unglaublich fein. abgestufte und komplexe Melodien. Die Mers schienen viel Zeit damit zu verbringen, einzelne Passagen ihrer Lieder ständig zu wiederholen, wie wenn sie mündliches Wissen
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