Tiamat-Zyklus 2 - Die Sommerkönigin 1 - Der Wandel der Welt
sauber, perfekt, die Seele – falls ein Quoll eine hatte – in die Freiheit entlassend.
Und wer wird dasselbe für mich
tun?
Er wandte sich ab und torkelte durch das Labor; die anfänglichen Entzugssymptome steigerten sich ins Unerträgliche. Bevor er sich überhaupt konzentrieren konnte, mußte er ein Beruhigungsmittel inhalieren. Dann schaltete er seinen Arbeitscomputer ein, und vertippte sich mehrere Male, als er den Sicherheitscode eingeben wollte. Endlich vernahm er das leise Geräusch, das ihm verriet, das die Verriegelung eines bestimmten Geheimmoduls gelöst war. Er ging hin, steckte die Hand durch den flimmernden Energieschirm und nahm eine nicht gekennzeichnete Phiole heraus. Die Droge hatte keinen offiziellen Namen, und es gab nur einen einzigen Menschen, der sie benutzte. Reede Kullervo nannte sein Produkt das ›Wasser des Todes‹. Er öffnete die Phiole und schluckte gierig den Inhalt.
TIAMAT
Karbunkel
H errin ...«
»Herrin ...«
Mond erkannte den vertrauten Dialekt der Sommerleute, als sie die lange Rampe herunterging, die Karbunkels Untere Stadt mit dem Hafen verband. Arbeiter neigten den Kopf, hoben grüßend die Hände oder glotzten sie einfach nur an, während sie durch ihre Welt ging, die einst auch die ihre gewesen war. Sie trug die schlichte unförmige Kluft der Matrosen – Leinenhemd, Leinenhose und dazu einen dicken, graubraunen Pullover, den ihre Großmutter gestrickt hatte.
Mond und Funke waren auf das Betreiben ihrer Großmutter in den Hafen gegangen. Sie hatten das Sibyllencollege, die feilschenden Unternehmer aus dem Wintervolk und die beflissenen Winter-Ingenieure zurückgelassen, um ihr Volk und auch sich selbst daran zu erinnern, was ihr Erbe war. Gran war mitgekommen und hielt demonstrativ Distanz zu Jerusha PalaThion, die die Sommerkönigin überallhin begleitete. Mitten auf der Rampe versammelte sich der Goodventure-Clan, der Mond gleichfalls nicht aus den Augen ließ; sie verfolgten sie und spionierten ihr nach, ein Grund mehr für Jerusha PalaThion, sich stets in der Nähe der Königin aufzuhalten.
»Herrin, was können wir für dich tun?« Ein Seemann, der ein Schiffstau hinter sich herzog, kam zu ihr. In seinem Blick lag eine Andeutung von Ehrfurcht, aber auch Unsicherheit, als befürchtete er, sie sei gekommen, um ihr Volk wegen seiner zögerlichen Haltung gegenüber der neuen Ordnung zu rügen.
Sie nahm ihm das Tau aus der Hand; als sie spürte, wie die rauhen Fasern ihre Haut zerkratzten, fiel ihr auf, daß sie an schwere körperliche Arbeit nicht mehr gewöhnt war. »Gar nichts«, erwiderte sie bescheiden. »Laßt mich nur eine Weile wieder Mond Dawntreader sein, die auf den Schiffen arbeitet und Fragen beantwortet, wie es sich für eine Sibylle gehört.«
Überrascht sah er sie an und überließ ihr das Tau. Sie schlang es um einen Poller, wobei ihre Hände mechanisch Knoten banden, in einer Technik, die sie schon vergessen glaubte.
Langsam, beinahe widerstrebend, zeigten ihr die anderen Sommerleute, was sie gerade taten. Funke folgte ihr verlegen überallhin und half. Schneller, als Mond es für möglich gehalten hätte, kehrte die alte Geschicklichkeit zurück. Gran hockte sich auf den Pier und ließ sich von einem Seemann ein Netz zum Flicken geben. Jerusha stand gegen ein Faß gelehnt da und schaute unbehaglich drein. Das Gewehr trug sie über der Schulter. Erst am Morgen hatte sie erzählt, daß sie nach drei Fehlgeburten nun schon zum viertenmal schwanger sei. Miroe hatte ihr jede schwere Arbeit verboten. Mond wußte, daß er ihr am liebsten Bettruhe verordnet hätte, doch so weit getraute er sich nicht zu gehen.
Es versammelte sich keine Menge. Die anderen Sommer beobachteten ihre Königin verstohlen, mit einer Mischung aus Skepsis und Befangenheit. Aber sie wußte, daß sich die Nachricht von ihrem Aufenthalt in dieser Welt voller seufzender, knarzender Schiffe, verbreitete. Hier, im Schutz der muschelförmigen Stadt Karbunkel, wurden Schiffe be- und entladen, repariert, ausgebessert, seetüchtig gemacht – so beständig, wie der pausenlos wehende kalte Wind, der durch die Takelagen strich.
Mond durfte gar nicht daran denken, daß die meisten Arbeiten auch mit weniger Aufwand und Risiko hätten erledigt werden können. Statt dessen rief sie sich ins Bewußtsein, wie befriedigend es war, wenn viele Menschen gemeinsam eine Aufgabe anpackten, wenn alle harmonisch zusammenwirkten wie ein einziger, aufeinander abgestimmter Organismus. Sie genoß
Weitere Kostenlose Bücher