Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
Sibyllen-Nexus abstrahlte, nur für den sichtbar war, dessen Wahrnehmungen durch das Sibyllenvirus oder das Wasser des Lebens geschärft wurden.
Indem er lauschte, auf beinahe mystischem Wege die Ordnung im Chaos suchend, bemerkte er die Stille, die durch die verlorengegangenen Liedpassagen entstand; durch das Abschlachten ganzer Merkolonien waren große Lücken entstanden. Die Wechselwirkung der Gesänge, die jahrtausendelang weitergegeben worden waren, sollte der Smartmatter im Sibyllen-Nexus eine Folge von hierarchisch codierten Botschaften übermitteln, mit deren Hilfe sie sich selbst korrigieren und etwaige Abweichungen im System ausgleichen konnte.
Wegen der Launenhaftigkeit des halbempfindsamen Sibyllennetzes, und wegen seiner komplexen Funktionen waren Fehler und Anomalien unvermeidlich. Deshalb hatte er ein System erfunden, das die selbständige, in sich geschlossene Hardware des Nexus mit der biotechnisch entwickelten Lebensform der Mers kombinierte. Er hatte zwei potentiell fehlerhafte Systeme, von denen das eine jedoch sehr stabil, das andere höchst flexibel war, miteinander verknüpft. Heller Stolz erfüllte ihn; etwas Ähnliches hatte es noch nie gegeben – und er war der Schöpfer. Er hatte diesem Netzwerk Leben eingehaucht ...
Beide Prinzipien sollten zusammen ein extrem störungsfreies Ganzes ergeben; da die Teile sich gegenseitig kurieren konnten, war eine langandauernde Zuverlässigkeit garantiert. Er hatte den Nexus den Mers überlassen, die seine Abweichungen wahrnehmen und korrigieren sollten; und für die Mers hatte er diese Versammlung eingerichtet, auf der der Nexus die Programmierung des Wassers des Lebens aufzeichnen und korrigieren konnte, um eine Anpassung an etwaige Veränderungen in der Umwelt zu ermöglichen. Gleichzeitig belohnte er sie mit Fruchtbarkeit, die durch die Strahlung, die das Wasser durchdrang, bewirkt wurde. Es war ein Geben und Nehmen, eine Symbiose, in der lebenswichtige Dinge ausgetauscht wurden. Doch seine bis ins kleinste ausgetüftelten Pläne waren schiefgelaufen, weil er letzten Endes auch nur ein Mensch war ... wie sein geliebter Ilmarinen
Deshalb war er nach Jahrhunderten des Vergessens erneut erwacht, in diesem künstlich konstruierten Gefäß aus Fleisch und Blut (obwohl er sich darin lebendiger gefühlt hatte als während seiner realen Existenz), um die Dinge neu zu richten; und es mußte jetzt gleich geschehen.
»Sie sind wunderschön ...«, murmelte Tammis neben ihm. »So habe ich sie noch nie erlebt ... wie sie alle zusammen singen ...«
»Dieses Schauspiel hat noch keiner gesehen«, sagte Vanamoinen leise. »Jetzt mußt du in ihre Gesänge einstimmen – spiel die aufgenommenen Lieder ab und schwimm mit ihnen. Wenn sie neue Passagen hören, werden sie sie lernen – sie verstehen, daß etwas unvollständig ist. Ich muß die Computerfunktionen durchchecken. Wenn alles klappt, wird er mit deiner Hilfe neu kalibriert. Aber jetzt muß ich mich selbst darum kümmern, denn die Abweichung ist ernst, und uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wenn ich dich rufe, kommst du zu mir.«
Tammis nickte. »Wo ist er denn ... der Computer«, fragte er und schaute in die Runde; vor Ehrfurcht klang seine Stimme ganz leise, als er sich bewußt wurde, welches Wissen man ihm anvertraut hatte. »Ich sehe keine Maschinerie.«
»Der Computer umgibt dich ringsum.« Vanamoinen machte eine allumfassende Geste. »Die technoviralen Gehirnzellen sind in die Felsen der Kavernen eingestanzt.« Halb staunend, halb skeptisch, sah Tammis ihn an. Vanamoinen lächelte und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Erfüll du nur deine Aufgabe; das genügt.« Er zeigte auf das Ballett der Mers, deren Musik seinen Geist füllten wie köstlicher Nektar. Tammis machte sich auf den Weg; einmal blickte er über die Schulter, bevor er sich in den Reigen einfädelte.
Vanamoinen machte kehrt und schwamm durch die schimmernden Weiten der Höhle zu einer unauffälligen Stelle an der Felswand, wo die Synapsenkontrollen eingelassen waren.
Er erkannte den genauen Ort, weil er ihn erst gestern – vor über zweitausend Jahren – in seinem Gedächtnis gespeichert hatte. Als er die schweren Isolierhandschuhe abstreifte, fühlte er, wie das kalte Wasser seine ungeschützte Haut küßte, und er merkte, wie es sich bemühte, durch die Manschetten seines Thermoanzugs zu kriechen. Wie ein Blinder tasteten seine Fingerspitzen über das Gestein, bis er endlich die Synapsen fand und die Maschine ihn willkommen
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