Tief im Herzen: Roman (German Edition)
eingegangen, die ihn zu seinem Unbehagen auf lange Sicht an diesen Ort band. Doch wenn er nicht gerade Stufen ausbesserte oder Wäsche wusch, konnte er wenigstens an dem heißgeliebten Wagen seiner Mutter herumbasteln und ihn in Schuß halten. Es bereitete ihm großes Vergnügen, ihn zu fahren – so großes Vergnügen,
daß er ohne Murren den Strafzettel hinnahm, den er kurz vor Princess Anne bekam.
In der Stadt ging es nicht mehr so lebhaft zu wie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, als noch König Tabak regierte und die Gegend zu Wohlstand gekommen war. Aber hübsch war sie allemal, dachte Cam, unter anderem wegen der alten restaurierten, gut erhaltenen Häuser und der sauberen, ruhigen Wohnstraßen. Jetzt, da sich der Tourismus zum neuen Gott des Küstengebiets entwickelte, waren der Charme und die Anmut geschichtsträchtiger Orte ein großer ökonomischer Pluspunkt.
Annas Apartment lag knapp einen Kilometer von ihrer Arbeitsstätte entfernt. Es war ein bequemer Fußweg dorthin und auch zum Gericht. Außerdem konnte sie bequem einkaufen. Er verstand, warum sie in das alte viktorianische Haus gezogen war.
Das Gebäude lag hinter hohen Bäumen versteckt, deren Zweige schon neue Blätter trugen. Der rissige Gehweg war von Narzissen eingefaßt, die bald in sonnigem Gelb erblühen würden. Stufen führten zu einer überdachten Veranda hinauf. Ein Schild neben der Tür wies darauf hin, daß das Haus unter Denkmalschutz stand.
Die Tür war nicht verschlossen, so daß Cam hineingehen konnte. Der Holzfußboden war zwar ein wenig abgenutzt, doch mit Hilfe einer Politur hatte er immer noch einen matten Glanz. Die Briefkastenschlitze an der Wand waren aus poliertem Messing und ließen erkennen, daß das Haus in vier Wohnungen unterteilt war. A. Spinelli wohnte in 2B.
Cam marschierte die knarrenden Stufen zur zweiten Etage hinauf. Hier war der Flur enger, die Beleuchtung schwächer. Das einzige Geräusch kam aus dem Fernseher von 2A.
Er klopfte an Annas Tür und wartete. Er klopfte noch einmal, steckte dann die Hände in die Taschen und machte ein finsteres Gesicht. Er hatte damit gerechnet, sie zu
Hause anzutreffen. Es war fast neun Uhr abends und ein Wochentag.
Sie hätte ruhig zu Hause sitzen, ein Buch lesen, Formulare ausfüllen oder Berichte schreiben können. So verbrachten Karrierefrauen doch ihre Abende – obgleich er hoffte, ihr irgendwann einmal einen unterhaltsameren Zeitvertreib zeigen zu können.
Vermutlich ist sie auf einem Treffen der zahlreichen Frauenclubs, dachte er verärgert. In den Taschen seiner Bomberjacke aus schwarzem Leder kramte er vergeblich nach einem Stück Papier, und er wollte gerade 2A stören, um sich Schreibzeug zu leihen, als er das schnelle, rhythmische Klappern hörte, in dem ein erfahrener Mann die Stiletto-Absätze einer Frau auf Holz erkannte. Er sah ihr entgegen, erfreut, daß sich sein Glück gewendet hatte, und staunte. Die Frau, die auf ihn zukam, erfüllte die geheimsten Männerfantasien. Sie stellte ihren umwerfenden Körper freigebig in einem eng anliegenden neonblauen Kleid zur Schau, das viel von ihren Brüsten und ihren Oberschenkeln enthüllte. Es überließ nichts – und alles der männlichen Vorstellungskraft. Ihre Schuhe hatten dieselbe Farbe und ließen ihre faszinierenden Beine endlos lang erscheinen.
Ihr Haar, feucht vom Regen, ringelte sich wild auf ihre Schultern herab – eine dichte, ebenholzschwarze Mähne, die Bilder von Zigeunern und Sex am Lagerfeuer hervorriefen. Ihr Mund war rot und feucht, ihre Augen groß und dunkel. Ihr Duft hüllte ihn schon ein, bevor sie ihn erreichte, und versetzte ihm einen mörderischen Schlag direkt in die Leistengegend.
Sie sagte nichts, kniff nur diese erstaunlichen Augen zusammen, wobei sie eine ihrer herrlichen Hüften vorschob und wartete.
»Tja.« Er mußte sich anstrengen, um wieder Luft zu bekommen. »Sie haben wohl noch nie von dem Sprichwort gehört, daß man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen soll.«
»Das kenne ich.« Es ärgerte sie, ihn vor ihrer Tür zu finden. Und noch mehr ärgerte es sie, daß er ihr an diesem Abend nicht aus dem Kopf gegangen war. »Was wollen Sie, Mr. Quinn?«
Jetzt grinste er. »Das ist in dieser Situation eine verfängliche Frage, Ms. Spinelli.«
»Seien Sie nicht so gewöhnlich, Quinn. Bisher haben Sie das erfolgreich vermieden.«
»Ich versichere Ihnen, ich habe keinen einzigen gewöhnlichen Gedanken im Kopf.« Er konnte nicht widerstehen und
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