Tief im Hochwald - Kriminalroman
herum. »Ich bin dabei, die Ziffern in einen logischen Zusammenhang zu setzen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es die letzten Ziffern der Finalkoordinate sind«, sagte der Freak. »Der Mörder möchte uns etwas zeigen. Oder er möchte sich uns zeigen.«
Vanessas Handy klingelte, es war Frau Dr. Schulze-Obersehr. Nach dem Telefonat fasste Vanessa kurz für alle zusammen: Die Ärztin hatte mit dem Apotheker gesprochen, und der habe sich daran erinnert, dass Trost ein einziges Mal ein Antidepressivum bei ihm geholt hatte. Damals hatte es einen unerwarteten Wintereinbruch gegeben, und Trost hatte noch keine Winterreifen an seinem Auto gehabt. Mit Sommerreifen habe er sich nicht bis in die Stadt getraut, das habe er ihm erzählt. Es musste wahrscheinlich kurz nach Trosts Rückkehr in den Hochwald gewesen sein. Der Apotheker hatte der Ärztin bestätigt, welche Folgen ein unkontrolliertes Absetzen solcher Medikamente haben konnte. Er hatte wohl alles aufgezählt, was Vanessa in diesem Moment nicht hören wollte: Aggression, Autoaggression, mit anderen Worten die Bereitschaft, sich selbst zu verletzen, bis hin zum Suizid, aber auch Depression bis hin zum körperlichen Zusammenbruch.
»Ich glaube, das könnte unsere Lösung sein«, sagte Vanessa. »Gunter, Charlotte, ich möchte, dass wir drei den Bildhauer aufsuchen, jemand kümmert sich bitte um einen Durchsuchungsbefehl.«
»Heute ist Feiertag, das kann erfahrungsgemäß ein paar Stunden dauern«, wandte Bernadette ein. »Bis der da ist, sehe ich mir mit meinen Leuten noch mal Rommelfangers Wohnung an, vielleicht gibt es Drohbriefe oder Tagebücher oder so.«
»Das klingt gut, aber sobald wir den Durchsuchungsbefehl haben, kommst du bitte mit deiner Truppe nach und stellst Trosts Haus auf den Kopf.«
Rolf Trost war in seiner Werkstatt und bearbeitete gerade eine filigrane Holzfigur mit feinem Schleifpapier, als Vanessa, Charlotte und Gunter eintraten.
»Ich habe nicht gern Besuch in meiner Werkstatt«, monierte er, aber Gunter schnitt ihm das Wort ab.
»Das ist auch kein Höflichkeitsbesuch aus künstlerischem Interesse. Wir sind hier aufgrund des Verdachts, dass Sie in die aktuelle Mordserie rund um Hellersberg verwickelt sind.«
Gunter erläuterte, dass sie über den sexuellen Missbrauch durch den Pastor im Bilde waren, und äußerte die Vermutung, dass auch Trost ein Opfer gewesen war. Dabei betonte er, dass sie darauf angewiesen seien, dass ein früheres Opfer den Pastor anzeigte, um eine Anklage und somit eine Verurteilung überhaupt möglich zu machen. Trost hörte sich alles in Ruhe an und lächelte unergründlich.
»Und jetzt glauben Sie, dass jemand den Pastor umbringen möchte? Verdient hätte er es ja schon, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet, wenn das alles so stimmt, wie Sie es schildern«, brummte er, während er weiter an seinem Holzklotz schmirgelte. »Aber wer würde so einen Aufwand betreiben, statt den Pastor direkt umzubringen? Man müsste da viel schärfere Gesetze schaffen, damit so einer nie wieder rauskommt. Da vertraut man so jemandem seine Kinder an, und er nutzt das schamlos aus. Das ist zum Gotterbarmen, oder?« Seine grauen wilden Locken hatte er dabei mit einem karierten Tuch am Hinterkopf zusammengebunden, auf sein faltiges Gesicht hatte sich eine feine Staubschicht gelegt.
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«, wollte Charlotte wissen.
»Ich weiß schon, nach nur einundvierzig sehe ich nicht aus, aber das macht das ausschweifende Leben damals in Berlin. Das waren echte Kommunen wie seinerzeit achtundsechzig. Immer bekifft, nie Vitamine zu uns genommen, zu wenig geschlafen. Irgendwann hatte ich dieses Leben satt und ging nach Köln, da ist die Künstlerszene ganz anders als in Berlin. Aber zur Ruhe kam ich noch immer nicht. Als mein Onkel starb und mir diesen Hof überließ, sah ich es als Wink des Schicksals, zu meinen Wurzeln zurückzufinden. Ich habe den Hof –«
»Danke, das interessiert mich zwar grundsätzlich, aber dazu würde ich gern später kommen«, unterbrach ihn Gunter. »Darf ich mich einmal umsehen?«
»Ganz ungern, Herr Kommissar, ganz ungern. Nicht, dass ich etwas zu verbergen hätte, aber die Leute im Ort werden Ihnen sicher auch schon erzählt haben, dass ich mich völlig vom Dorfleben abschotte und nie jemanden in meine Werkstatt lasse. Ich weiß nicht, wie viel Ahnung Sie von Kunst haben, aber jedes Werkstück hat eine Seele, eine Aura. Die muss man ergründen, und dann kann man aus jedem
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