Tief im Hochwald - Kriminalroman
auf, bevor sie alle Kollegen zur Besprechung der aktuellen Lage zusammenrief.
»Ich habe die Reifenspuren analysiert, es dürfte sich um einen Suzuki Vitara handeln. Davon dürfte es im Hochwald allerdings Unmengen geben«, begann Bernadette.
»Kein Problem, die meisten werden beim selben Reifenhändler kaufen, weil der weit und breit der billigste ist. Der hat zwar bestimmt keine Namensliste von seinen Kunden, aber wenn mich nicht alles täuscht, steht er in dem Ruf, ein phantastisches Gedächtnis zu haben, der erinnert sich bestimmt an seine Kunden«, warf Landscheid triumphierend ein.
Gunter bat Landscheid spontan, den Reifenhändler zu befragen, was dieser direkt nach der Besprechung tun wollte.
»Charlotte, was kannst du uns zum Täterprofil sagen, bist du einen Schritt weiter?«, wandte sich Gunter an die Psychologin.
»Allmählich habe ich den Verdacht, er will gefunden werden. Ich komme langsam zu dem Schluss, es könnte sich bei dem Täter um eine Person handeln, die nach sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit psychisch gestört ist. Möglicherweise ist es eine Person, die ihre Medikamente nicht ganz regelmäßig einnimmt und uns im medikamentierten Zustand völlig normal erscheint, ohne Tabletten aber irrational handelt. Wenn diese These stimmt, stellt sich die Frage, ob derjenige versehentlich seine Tabletten vergisst oder ob er sich durch einen gezielten Verzicht in einen anderen Zustand versetzen will. Sozusagen das Gegenteil von Drogengenuss, der Verzicht auf ein Mittel, das ihn in einen Normalzustand versetzt.«
»Eine gespaltene Persönlichkeit, so was wie Jekyll und Hyde?«, fragte Vanessa.
»Ich denke eher an eine neurotische, also eine rein seelisch bedingte Depression, ausgelöst durch die Erfahrungen in der Kindheit. Diese unterscheidet sie erheblich von einer Depression, die beispielsweise im mittleren Lebensalter durch Überlastung oder fehlende Lebensaufgaben ausgelöst werden kann. Eine Neurose hingegen ist eine Störung der psychischen Erlebnisverarbeitung. Die traumatischen Erlebnisse von damals wurden ganz oder teilweise verdrängt und brechen sich heute wieder Bahn. Ich gehe von einer Person aus, die im Alltag mit Hilfe von Medikamenten und hoffentlich auch einer Psychotherapie unauffällig im Sinne von sozial angepasst ist, aber die ab und zu eben aus Unachtsamkeit oder auch bewusst auf Medikamente verzichtet oder sogar gegensätzliche Wirkstoffe zu sich nimmt, um in gewissen Situationen einen besonderen Kick zu erleben, einen anderen Bewusstseinszustand. Ich habe es bislang nicht genau analysiert, aber ich fürchte, es ist eine Person, die uns im Alltag nicht auffällt und deren Ausnahmezustände wir normalerweise nicht wahrnehmen. Typisch wäre ein mittleres Lebensalter, das deckt sich durchaus mit dem Kreis unserer Verdächtigen.«
Vanessa und Gunter standen Seite an Seite vor der Namensliste an der Wand und sahen sich die Verdächtigen an. »Eher männlich oder eher weiblich?«, fragte Vanessa.
»Eine neurotische Depression oder Dysthymie wäre typischer für eine Frau, aber die würde auch eher ihre Medikamente regelmäßig nehmen und eine Therapie besuchen. Folglich sind beide Geschlechter möglich«, klärte Charlotte sie auf.
»Du sagtest, jemand, der einen besonderen Kick braucht? Welcherart Mensch könnte das sein? Ein Extremsportler? Oder vielleicht ein Künstler?«, fragte Gunter.
»Das war auch mein erster Gedanke«, sagte Charlotte. »Davon habt ihr aber mehrere, wenn ich mich richtig erinnere. Der Organist und der Kunstschmied sind weggefallen, bleiben die Sängerin Doris Zimmermann, der Bildhauer, der Chorleiter … Allerdings würde eure Alexandra Stüber da nur schwer ins Bild passen. Menschen, die unter einer Depression leiden, sind eher schwermütig, sensibel, ziehen sich eher zurück. Alexandra Stübers Suche nach öffentlicher Anerkennung kommt mir ziemlich untypisch vor. Auch ist sie lange Jahre verheiratet, das ist bei depressiven Menschen leider seltener der Fall, weil eine Beziehung doch sehr unter dieser Krankheit leidet. Der Organist hätte vielleicht diesem Bild entsprochen, aber den müssen wir nun ausschließen, wenn wir nicht davon ausgehen wollen, dass es sich um zwei verschiedene Täter handelt.«
»Gibt es weitere Eigenschaften, die uns zu dem Täter führen könnten?«, fragte Vanessa.
»Typisch wäre eine Häufung von depressiven Erkrankungen in der Familie. Eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung, vielfach ausgelöst durch Verlust
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