Tief im Hochwald - Kriminalroman
Jungen fehlte. Nie habe ich von den Kindern eine negative Rückmeldung bekommen, sie sind mir nicht aus dem Weg gegangen oder haben sich von mir abgewandt, sondern kamen weiterhin zu mir. Erst jetzt verstehe ich, dass das möglicherweise daran lag, dass sie Angst davor hatten, mich gegen sie aufzubringen und meine Gunst zu verlieren. Ich habe nie wissentlich Druck auf die Kinder ausgeübt, aber unter Umständen haben sie es als Druck empfunden, was nie meine Absicht war. Sie hatten vielleicht auch Angst, dass ihre Eltern, die ja zum großen Teil tiefreligiös waren, ihnen nicht nur nicht glauben, sondern sie auch noch bestrafen würden, weil sie aus Sicht der Eltern Lügen über mich erzählt hätten. Außerdem wussten die Kinder, wie einsam ich bin, sie waren so loyal und liebevoll zu mir. Ich glaube heute, sie wollten mich teilweise schützen und behüten, wie ich es eigentlich bei ihnen hätte tun sollen. Die Jungen waren doch zum Teil noch so jung, die wussten bis dahin gar nichts von Sexualität und konnten nicht einschätzen, was normal war und was nicht.
Es waren viele Kinder, viele Jungen, die ich unter meine Fittiche genommen hatte. Aber es ist mir wichtig, dass mein langjähriger Freund Heiner Landscheid mir glaubt, dass ich seinen Kindern nie etwas getan habe. Leider erinnere ich mich nicht mehr an alle Jungen, denen ich zu nahe getreten bin, ich weiß nur, dass ich einige mit Sicherheit ausschließen kann. Ich weiß nicht, wer nach all den Jahren mir nach dem Leben trachtet, aber ich bin sicher, es ist einer von ihnen, ein Hellersberger Junge. Folglich einer von uns, einer, der mich und mein Leben kennt.
Ich fühle mich nicht mehr sicher, und ich habe Angst, dass wegen mir noch andere sterben müssen. Ich weiß nicht, warum so viele unschuldige Seelen bereits sterben mussten, statt dass er sich direkt mich geholt hätte. Vielleicht hat er darauf gewartet, dass ich mich selbst stellen oder schneller zu diesem Schritt greifen würde. Ich will nicht warten, bis er mich richtet. Ich werde Gottes Strafe nicht entgehen können, aber wenn ich schon in die Hölle komme, dann möchte ich nicht mehr warten müssen in der Gewissheit, was mich nach meinem Leben erwarten wird, und der Ungewissheit, was mich bis dahin weiterhin erwarten wird. Ich habe meine Kirche und das Glockengeläut immer geliebt, darum habe ich diesen Weg gewählt. Ihr sollt mich nicht in geweihter Erde begraben, ich bin dessen nicht würdig. Begrabt mich im Friedwald bei Losheim und nehmt mich in eure Gebete auf. Vergebt mir meine Sünden, ich bin nicht würdig, dass ich eingehe in den Himmel. Gott sei mir gnädig.
Die Unterschrift war fast unlesbar, aber es bestand kein Zweifel, wer den Brief verfasst hatte. Leider enthielt er nichts, was sie auf die Spur des Täters hätte bringen können. Maßgeblich war aber, dass das Ehepaar Stüber entlastet war. Und auch Trost hatte zu dem Zeitpunkt auf der Polizeiwache gesessen, er konnte den Pastor nicht zum Verfassen dieses Briefes und zu seinem endgültigen Schritt veranlasst haben. Geistesabwesend griff Vanessa in die Schublade des Schreibtisches, an dem sie saß, und steckte den Brief in einen Beweismittelbeutel.
»Danke!«
»Der Brief lag auf der Kanzel. Mir war aufgefallen, dass das Licht auf der Kanzel nicht brannte, und ich wollte die Birne wechseln, bevor ich die nächste Messe lese. Es wäre peinlich gewesen, die Predigt nicht halten zu können, weil ich völlig im Dunkeln tappe. Jemand hatte die Birne leicht herausgeschraubt, sodass sie nicht brannte. Und darunter lag dieses Bekenntnis meines Vorgängers und Kollegen.« Pastor Lämmle schluckte. »Können Sie überhaupt ermessen, was es für einen gläubigen Katholiken bedeutet, sich selbst das Leben zu nehmen?«, fragte er tonlos.
Vanessa schüttelte nur den Kopf. »Bitte lassen Sie mir den Brief da, ich werde mich darum kümmern. Pastor Feldmann ist in der Pathologie in Trier, die Kollegen werden sich vergewissern, ob es wirklich kein Fremdverschulden bei seinem Tod gab«, sagte Vanessa.
»Ich denke, ob es hier um Fremdverschulden geht oder nicht, ist die falsche Fragestellung. Die Schuld, die Josef Feldmann vor Gott und diesen Kindern auf sich geladen hat, ist schlimm, aber das ermächtigt niemanden außer Gott, über ihn zu richten. Aber ich nehme an, es geht Ihnen im polizeilichen Sinne darum, ob Pastor Feldmann selbst Hand an sich gelegt hat oder ob jemand anders ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Todesstoß versetzt hat. Ich
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