Tief im Hochwald - Kriminalroman
Willen nicht über den Weg laufen möchte.« Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken unauffällig die Nase ab, da sie kein Taschentuch bei sich trug. Hajo reichte ihr ein blumenbesticktes Taschentuch, das er aus einer Schublade der Schminkkommode genommen hatte. Im Flur läutete das Telefon.
»Ich höre mal, wer da etwas von mir möchte. Sehen Sie sich in Ruhe um, probieren Sie ruhig an, falls Ihnen ein Teil gefällt.« Er schloss die Tür hinter sich und ließ Vanessa allein.
Aus dem Flur hörte sie einen freudigen Ausruf, als Hajo vermutlich den Hörer abnahm.
Es dauerte eine Weile, bis sie Hajo an die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau klopfen hörte. Vanessa hatte einen kleinen Berg an Kleidungsstücken zusammengelegt, der ihr über die ersten Tage hinweghelfen konnte. Nur Unterwäsche würde sie sich besorgen müssen, da weigerte sie sich, die Sachen einer Toten zu tragen, aber Katharina Nerts Kleidungsstücke waren erstaunlich geschmackvoll, eine ungewöhnliche Mischung aus elegantem Chic und Schlichtheit.
»Wie alt ist Ihre Gattin geworden?«, fragte sie vorsichtig nach.
»Dreiundfünfzig war meine Katharina, aber viele der Kleidungsstücke hingen schon lange ungenutzt im Schrank.« Hajo streichelte gedankenverloren über ein hellblaues Twinset aus dünner Kaschmirwolle. »Dazu hat sie immer den kurzen dunkelblauen Rock getragen, haben Sie sich den auch herausgenommen?«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Sommerkleidung habe ich selbst, aber ich habe mir erlaubt, eine dunkelblaue Hose dazu auszusuchen. Sofern Ihnen das recht ist.«
Hajo legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Kind, ich bin ehrlich froh, wenn die Sachen getragen werden. Es hängen schöne Erinnerungen daran.«
»Es scheinen mir nicht die typischen Sachen zu sein, die ich bislang in Hellersberg so gesehen habe.«
»Das stimmt. Katharina war Musikerin. Sie hat Querflöte gespielt und Unterricht erteilt. Früher war sie in Trier im Orchester des Stadttheaters, aber nach und nach sind durch eine Krankheit ihre Finger immer steifer geworden. Sie konnte die Schmerzen manchmal kaum aushalten. Die Kleider trug sie überwiegend bei ihren Konzerten. Ihre Sachen, die sie auf dem Hof getragen hat, wenn sie Kartoffeln ausmachen oder den Kompost umgraben musste, sind unten in einem Schrank neben der Hoftür, aber davon möchten Sie ganz sicher nichts tragen. Aber werfen Sie mal schnell Ihren Klapprechner an, wir müssen uns etwas ansehen. Und wenn Sie möchten, können Sie sich gern noch mehr Sachen nehmen, nur keine Scheu. Ich hole Ihnen gleich einen Koffer vom Dachboden.«
»War das am Telefon Ihr Enkel?«
»Ja, und was Jonas herausgefunden hat, während ich mit ihm telefoniert habe, ist sensationell.«
»Eigentlich ist das ja Sache der Polizei. Aber ich habe den Eindruck, wir können wertvolle Zeit sparen, wenn Sie uns, was das Cachen angeht, mit Ihren Kenntnissen helfen. Und ich kann mich ja darauf verlassen, dass das unter uns bleibt, nicht wahr? Mein Rechner ist unten bei meiner Tasche. Gehen wir runter.«
Wie sich herausstellte, war es gar nicht so leicht, Empfang über Vanessas Internetstick zu bekommen. Die dicken Mauern des alten Bauernhauses ließen keinen Empfang zu. Während Vanessa auf der Terrasse und im Garten versuchte, ein Signal zu empfangen, kochte Hajo Kaffee und machte ein Tablett zurecht mit Tassen, Servietten, Tischsets und Zucker. Am anderen Ende des Gartens winkte Vanessa, als sie endlich Empfang hatte. Hajo trug einen alten Holztisch, das Tablett und zwei Stühle, deren Sitzpolster schon ziemlich verschlissen aussahen, zu ihr hinüber.
»Tut mir leid, ich habe keine Milch im Haus, brauche ich nie«, entschuldigte sich Hajo.
Vanessa lächelte ihn an. »Danke, ich trinke den Kaffee nur mit Zucker. Ich hätte gar nicht mit so einer gemütlichen Kaffeerunde gerechnet. Nachdem es heute Morgen so geschüttet hat, ist es inzwischen richtig schön geworden.« Dabei sah sie auf ihre Schuhe hinunter, die deutlich dunkle Flecken vom nassen Gras hatten.
Hajo folgte ihrem Blick. »Haben Sie auch mal nach den Schuhen meiner Frau gesehen?«
»Ehrlich gesagt bin ich in ihrem Kleiderschrank versunken. Ich habe mich gefragt, was sie für eine Frau war, und habe einige Teile anprobiert. Ich habe mich gefühlt, als sei ich in diesen anderen Kleidungsstücken ein ganz anderer Mensch, und es hat einfach gutgetan, für ein paar Augenblicke Mord und Totschlag zu vergessen.« Fast schuldbewusst über ihren Müßiggang, verfiel sie
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