Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Bild vor Augen. Wie er zu Lebzeiten ausgesehen hatte, speziell seinen Gesichtsausdruck, als er sie auf dem Dach des Bunkers so unbeholfen anzumachen versucht hatte. Immer wieder das Gesicht des kleinen, verletzten Jungen, der seine Felle davonschwimmen sah, es aber nicht so recht glauben mochte. Immer wieder sein Gesicht, und während sie sich damit quälte, weinte sie nach innen, verschluckte ihre heißen Tränen und schwor sich, Tim zu rächen.
Sie würde dieses Mistschwein töten!
Nicht dafür, dass er sie entführt hatte, dass er ihr Schmerzen zufügte und sie berührte, sondern für Tim.
Für Tim!
Es war dunkel geworden im tiefen Wald.
Die nervösen Lichter der Taschenlampen von Borrmanns Männern huschten an der grauen, riesenhaften Fassade des Bunkers entlang. Sie suchten nach Spuren, nach einem Eingang, suchten nach allem, was irgendwie verdächtig aussah. Das taten sie bereits seit zehn Minuten, bisher ohne Erfolg. Die Hundestaffel hätte ihnen die Arbeit erleichtert, doch
die befand sich noch auf dem Rückweg von Hamburg, und ob die Tiere nach dem Einsatz im Hafen und der langen Fahrt noch fit genug waren, stand nicht fest.
Peter Schröder war absolut sicher, dass Tim und Anouschka die Ölflasche vor diesem Bunker gefunden hatten. Daran, so hatte er mehrfach betont, konnte es keinen Zweifel geben.
Wo aber war das Versteck?
Nele stand ein wenig abseits, betrachtete das stille Wuseln der Taschenlampen und zermarterte sich den Kopf. Hatten sie etwas übersehen? Waren sie zu voreilig gewesen, nachdem sie in der Gartenlaube das Buch gefunden hatten? Die Schlussfolgerung war doch aber logisch. Eibia lag nicht weit entfernt von den Bahnübergängen, an denen die Frauen entführt worden waren, die Ölflasche, Tims Handy, all das sprach dafür … sie waren hier richtig. Irgendwo hier hielt sich ihr Täter auf, wahrscheinlich mit Anouschka und Tim in seiner Gewalt.
Peter Schröder hatte von unterirdischen Gängen gesprochen, durch welche die Bunker früher miteinander verbunden gewesen waren. Viele waren gesprengt worden, andere eingestürzt. Er schloss aber nicht aus, dass es noch intakte Teile der Anlage gab. Nur kannte er keinen Zugang, und im Dunkeln danach zu suchen war so gut wie sinnlos. Nele würde Borrmann sowieso nicht mehr lange halten können. Ihm war es genauso wichtig wie allen anderen, die vermissten Kollegen zu finden, doch er trug auch die Verantwortung für seine Männer und hatte recht, wenn er sagte, dass eine Suche im Dunkeln sinnlos und gefährlich war.
Trotzdem, Nele würde nicht ohne Anouschka hier weggehen.
Sie sah sich um, versuchte das Unterholz hinter sich zu durchdringen. Da drinnen herrschte eine lauernde Finsternis,
die nichts preisgab. Irgendwo dort vor ihr, überwuchert von Farn, versteckt hinter Büschen, geschützt durch den dichten Wald und die Dunkelheit, musste es einen Eingang geben. Nele spürte förmlich, wie nah dran sie war. Sie ging noch ein paar Schritte ins Unterholz, stand schon bis zu den Knien im Farn, als sie meinte, ein unterschwelliges Geräusch zu hören. Sie versuchte die Richtung zu orten, drehte den Kopf hin und her und legte eine Hand hinter das rechte Ohr.
Was war das?
Ein leises Fiepen?
Vielleicht eine Maus – oder gar eine Ratte.
Schon allein bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt den Rücken hinab. Aber war der Ton nicht zu gleichmäßig, um von einem Tier zu stammen?
Nele starrte und horchte so angestrengt in die Dunkelheit, dass sie alles andere um sich herum vergaß. Sie wollte schon tiefer ins Unterholz gehen, als sich plötzlich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte.
Nele erschrak heftig, schrie auf und fuhr herum.
Es war Hendrik.
»’tschuldigung«, sagte er, ebenfalls von Neles Reaktion erschrocken.
Er hatte Tannennadeln im Haar, seine Kleidung war verschmutzt. Bevor er den Mund aufmachte, verriet schon sein Gesichtsausdruck, was er sagen wollte.
»Wir müssen abbrechen und im Hellen wiederkommen. Borrmann hat recht. Unter diesen Umständen finden wir hier nichts. Vielleicht können wir bis morgen früh eine detaillierte Karte oder altes Architektenmaterial auftreiben.«
»Vielleicht sind Frau Rossberg und Herr Siebert bis dahin auch tot«, erwiderte Nele.
Hendrik atmete scharf ein.
»Glauben Sie etwa, dass wäre mir nicht bewusst? Oder Borrmann? Uns geht es genauso wie Ihnen. Aber wir können nichts tun. Was erwarten Sie eigentlich?«
Zum ersten Mal hörte Nele in Hendriks Stimme die Autorität seines Dienstgrades.
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