Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
nicht vermeiden, dass hin und wieder jemand auf einen Zweig oder Ast trat. Sie waren zu zwölft hier, dementsprechend oft knackte es.
»Hoffentlich wird das kein Fiasko«, sagte Hendrik als er sicher war, dass außer ihnen beiden keiner zuhörte.
»Für wen?«
Er sah sie nicht an, sondern achtete auf den Weg.
»Für alle.«
»Im Moment denke ich eigentlich nur an das Leben meiner Kollegen«, sagte Nele eine Spur schärfer als beabsichtigt.
Hendrik, der über einen bemoosten Baumstamm stieg,
warf ihr einen Blick zu. In dem schlechten Licht vermochte sie seine Augen nicht zu sehen.
»Genau davon spreche ich.«
Damit war der Wortwechsel beendet, da sie auf den Weg achten mussten, der zwischen großen Betonbrocken hindurchführte. Die wenigen Worte hinterließen bei Nele ein schlechtes Gefühl. Hatte sie diesen Fall verpatzt, weil sie ihre Leute nicht unter Kontrolle hatte? War es das, was Hendrik ihr zu sagen versucht hatte?
Sie schob die Gedanken beiseite. Dafür war jetzt kein Platz.
Nicht weit vor ihnen stand plötzlich die riesenhafte Mauer des Bunkers und hob sich dunkel vor einem noch dunkleren Hintergrund ab.
Karel Murow war verwirrt!
In seinem Kopf ging es zu wie in einem Bienenstock, unmöglich, so einen klaren Gedanken zu fassen. Dabei hatte er ihr doch nur die eine Frage gestellt, die er den anderen auch gestellt hatte. Die Antwort hätte ihren Tod zur Folge haben sollen, im Geiste hatte er sich schon vorgestellt, wie das Messer in diesen perfekten Körper glitt und das Leben darin auslöschte.
Doch es war anders gekommen, weil sie anders geantwortet hatte. Zudem sprach sie die Wahrheit. Er hatte es gesehen. Niemand konnte ihn anlügen und die Lüge vor ihm verstecken. Niemand!
Ein Bildnis, hatte sie gesagt, Adonis!
Sie ähnelte seiner Mutter! Liebevoll, zärtlich, mit dem Sinn für wahre Schönheit, dem Fremden, dem Andersartigen nicht verschlossen, wie der große Rest der Menschen es war.
Aber Mutter hatte ihn verraten!
Würde auch sie ihn am Ende verraten?
Karel Murow entschied, dass er es darauf ankommen lassen wollte.
»Steh auf«, sagte er zu ihr.
Sie fragte nicht, zögerte nicht, stand mit einer gleitenden Bewegung auf und blieb ganz dicht vor ihm stehen. Er spürte ihren Atem, die Wärme ihres Körpers, sie schien sich ihrer Nacktheit nicht zu schämen. Die gefesselten Arme hingen locker herunter, ihre Brüste berührten ihn beinahe. Einen atemberaubenden Augenblick lang spürte Karel Murow etwas in seinen Lenden, was er bis dahin niemals gespürt hatte. Warm breitete sich das Gefühl in seinem Körper aus und erfüllte ihn binnen Sekunden. Ihm wurde schwindelig, doch er kämpfte dagegen an, damit sie es nicht bemerkte.
Dieser wunderbare, einzigartige Augenblick verging, als sie ihre Handgelenke ausstreckte.
»Machst du mich los?«
Unfähig sich zu bewegen stand er da und starrte ihre Hände an. An den Gelenken waren sie wund und gerötet von dem scheuernden Metall. Seine Augen wanderten an ihr empor, streiften den Bauch, die Rippenbogen, die Brüste, den Kehlkopf. Über ihre sinnlichen Lippen erreichten sie ihre Augen, die ihn unverwandt ansahen. Er konnte ihren Blick kaum ertragen, zu mühelos vermochte er in seinen Kopf zu dringen.
»Du kannst mir vertrauen.«
Konnte er das?
Gab es auf dieser Welt tatsächlich einen Menschen, dem er vertrauen konnte? Sein bisheriges Leben hatte ihn etwas anderes gelehrt. Vielleicht war aber nun der Zeitpunkt gekommen, seine Erfahrungen über Bord zu werfen und sich auf etwas Neues einzulassen!
Was hatte er schon zu verlieren?
Egal was geschah, sie würde mit ihm hier unten sterben.
Karel wandte sich ab, ging zum Werkzeugtisch hinüber und holte den Schlüssel. Bevor er zu ihr zurückkehrte, fiel sein Blick auf den Leichnam am Boden. Er hatte ihn völlig vergessen. Er packte dessen Handgelenk, das sich eklig kalt und klamm anfühlte, und schleifte den schweren Körper zu ihr hinüber. Klatschend kam er vor ihren Füßen zu liegen.
Ein jämmerlicher Laut entfloh ihrer Kehle. Sie schloss die Augen und wandte den Kopf ab.
»Du kennst ihn?«
Dies würde die erste Bewährungsprobe für sie werden. Karel beobachtete sie genau.
Mit geschlossenen Augen, das Kinn auf der rechten Schulter, die Lippen fest zusammengepresst, nickte sie. Eine Träne rann ihre Wange hinab. Täuschte er sich, oder wurde ihr Körper von einem Krampf geschüttelt?
»Er war auf der Suche nach dir. Ist er dein Freund … war er dein Freund?«
Es dauerte eine
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