Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
hatte, das tat er sonst immer! Niemand in Mariensee musste, um nach Hause zu kommen, wirklich weit laufen, aber besoffen war ja bekanntlich auch der kürzeste Weg unendlich. Und für diese blöden Kurztouren musste Frauke jetzt extra die sechs Kilometer von Althausen, wo ihr letzter Fahrgast ausgestiegen war, zurückfahren, dann über die Bahn, zur Kreuzung im Wald, dann vier Kilometer Richtung Mariensee und dabei noch mal über die Bahn. Nervig, aber nicht anders möglich. Na ja, vielleicht verwechselte ja jemand einen Zehner mit einem Fuffziger. So was kam schon mal vor, und Frauke wäre die Letzte, die einen Besoffenen, mit dem sie sich rumplagen musste, darauf aufmerksam machen würde.
Die Digitaluhr im Wagen zeigte 22:45 an. Zwei Stunden noch, dann war auch diese Schicht zu Ende. Hier auf dem Land lohnte es sich unter der Woche nicht, die Zentrale die ganze Nacht über besetzt zu halten. Um eins hielt der
letzte Zug in Friedburg, den wartete sie noch ab, danach war Schluss. Frauke spürte schon seit einiger Zeit, wie ihr die Nachtschichten immer mehr zu schaffen machten, und sie trug sich mit dem Gedanken, damit aufzuhören. Aber allein mit dem Vormittagsjob in der Bäckerei kam sie finanziell nicht über die Runden. Sie brauchte die Kohle noch, da biss die Maus keinen Faden ab, zumindest so lange, bis Thorsten einen festen Job bekam. Wenn der endlich regelmäßig Unterhalt für Mandy zahlen würde, könnte sie das Fahren auf ein oder zwei Nächte in der Woche reduzieren. Damit wäre schon viel gewonnen. Dann hätte sie endlich mal wieder Zeit. Zeit zum Durchatmen, zum Nachdenken, Zeit, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Schon von weitem sah Frauke Wendtland in der dunklen Röhre der Waldstraße die beiden roten Ampeln des Bahn- überganges. Natürlich musste sie an Jasmin Dreyer denken, wer tat das in diesen Tagen nicht, aber Frauke hatte eine andere Meinung zu dem Thema. Selbst Mutter einer pubertierenden Tochter wusste sie nur zu gut, wie anstrengend und unberechenbar Kinder in dem Alter sein konnten.
Im Dorf erzählten sie, Jasmin hätte seit kurzem einen Freund. Das hatte auch Mandy, die zwar nicht mit Jasmin in eine Klasse, aber doch auf dieselbe Schule ging, bestätigt. Angeblich hielten die beiden in den Pausen ständig Händchen. Wenn die Polizei Frauke gefragt hätte, hätte sie denen geraten, sie sollten sich mal näher mit dem Freund befassen. Vielleicht wollten die beiden durchbrennen, und Jasmin hatte schon mal den Anfang gemacht. Aber sie hatte ja keiner gefragt.
Bevor sie den Bahnübergang erreichte, quäkte das Funkgerät und riss Frauke aus ihrem Gedanken. Ihr Chef wollte wissen, wohin sie unterwegs war.
»Nach Mariensee«, gab sie durch. »In der Waldschänke ist was los.«
»Sag Bescheid, wenn du frei bist … und pass an der Bahnschranke auf.«
»Ja, ja.«
Als sie die Schranke erreichte, teilte gerade der erste Zug die Nacht. Frauke wartete mit laufendem Motor ab. Der letzte Waggon der Regionalbahn verschwand in der Dunkelheit, doch die Schranken blieben unten. Frauke stellte den Motor ab und stieg aus. Gerade nachts reichte die Zeit oft für eine schnelle Zigarettenpause. Im Taxi durfte sie nicht rauchen, weil der Chef Nichtraucher war und es sogar einen Tag später noch roch, wenn sie bei geöffnetem Fenster schnell eine durchzog.
Frauke mochte diese stillen, einsamen Momente dort draußen. Ganz allein, Dunkelheit ringsherum, über sich ein wolkenzerfetzter Himmel, das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Kiefern und Fichten. Es war, als würde die Zeit stillstehen. Wenn die Welt, wenn ihr Leben doch immer so ruhig sein könnte. In wenigen Minuten jedoch würde sie einen brabbelnden, besoffenen Opa im Wagen haben, der seine Hände nicht bei sich behalten konnte. Frauke wurde ganz gut mit solchen Typen fertig, sie war nicht auf den Mund gefallen, aber Spaß machte es nicht.
Mit glühender Zigarette, den Rauch tief einatmend, trat sie bis an die Schranke und ließ ihren Blick die Bahngleise entlanggleiten. Noch war nicht dieses feine metallische Singen zu hören, das stets den nächsten Zug ankündigte. Noch war sie allein mit der Stille des Waldes, die nicht wirklich Stille war, sondern ein beständiges Knacken und Knirschen, Flügelschlagen, Scharren und Heulen. Frauke genoss rauchend den Moment, viel zu schnell würde er vorbei sein.
Im Taxi kratzte das Sprechfunkgerät.
Frauke drehte sich um und lauschte. Nervte der Chef schon wieder? Er wusste doch, wohin sie
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