Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Bürgerversammlung nur an drei Vertraute ausgeben müssen, der Rest war von allein gelaufen.
Natürlich bestellten die Leute etwas zu trinken, und Ulli erwartete so viel Umsatz wie sonst in einem Monat nicht, aber das war nur Nebensache. Heute Abend ging es um ihren Ort, ihre Kinder, ihre Sicherheit. Und was er seinen Leuten zu sagen hatte, würde für helle Aufregung sorgen, das wusste Ulli. Die Bedenken, er könnte eine Panik auslösen, hatte er nach zähem Ringen mit sich selbst über Bord geworfen. Die Menschen hier gerieten so schnell nicht in Panik. Außerdem hatten sie ein Recht, alles zu wissen, was ihren Ort betraf. Und er als Ortsvorsteher, was einem Bürgermeister gleichkam, hatte natürlich einen Plan.
Um halb acht saßen mehr als vierzig Leute im Schankraum. Während des Wartens hatte sich die Luft in eine blaue Dunstglocke verwandelt, und Ulli konnte längst nicht mehr jeden sehen, vor allem nicht die in den Ecken. Der Geräuschpegel war enorm. Als er aber den Schankraum betrat und sich an der Stirnseite unter den ausgestopften Köpfen der Hirsche, die er selbst geschossen hatte, aufstellte, verstummten die Gespräche schlagartig. Hier noch ein Husten, dort ein Rascheln, ansonsten Konzentration.
Ulli nickte Detlef Dreyer zu, der ihm am nächsten saß. Der Mann sah aus wie eine Leiche. Sein Bier bekam er natürlich umsonst. Ehrensache.
»Leute«, rief Ulli in seinem Bariton und tat so, als müsse er warten, bis sich alle beruhigt hatten.
»Leute … ich finde es ganz toll, dass ihr alle gekommen seid. Ich freue mich immer wieder über unsere starke Gemeinschaft hier in Mariensee.«
Zustimmendes Murmeln aus dem blauen Dunst.
»Ganz besonders freue ich mich, dass Detlef heute unter uns ist. Er hätte allen Grund, sich zu verkriechen. Ich bewundere seine Stärke.«
Ein paar Leute applaudierten, was Detlef Dreyer offensichtlich peinlich war.
»Wir haben es alle schon gehört, ich brauche es eigentlich nicht zu wiederholen. Und Detlef hat mir vorhin noch gesagt, es gibt keine Neuigkeiten. Seine Jasmin ist noch immer verschwunden. Ich hab ihm gesagt, dass das auch ein gutes Zeichen sein kann, und das meine ich auch so.«
Beifälliges Gemurmel.
»Der eine oder andere von euch hatte schon Kontakt zu den Leuten von der Polizei. Die fragen ja jeden nach allem. Gut, das muss wohl so sein. Die haben sich aber auch ganz speziell um den Unfall bemüht.«
Ulli musste nicht erklären, was er mit dem »Unfall« meinte. Alle in Mariensee nannten es so. Etwas Derartiges war vorher noch nie passiert und würde wohl auch nicht wieder passieren.
»Was hat das mit Jasmins Verschwinden zu tun?«, rief jemand.
»Genau das habe ich mich auch gefragt. Und auf eine Antwort musste ich nicht lange warten. Heute Vormittag war diese Hauptkommissarin Karminter mit einem ganzen Tross Beamter hier. Wobei ich glaube, dass einer davon eine höhere Position bei der Polizei bekleidet.«
»Na endlich«, kam es aus der Menge. »Ich hab doch gleich gesagt, die ist zu jung … und dann auch noch’ne Frau.«
»Lass mal gut sein, Frieder, die macht ihre Sache schon ordentlich. Ich wollte damit auch nur sagen, dass die Polizei die Sache verdammt ernst nimmt.«
»Und was hat das nun mit dem Unfall zu tun?«
»Wart’s doch ab. Ich konnte Bruchteile ihres Gespräches verstehen. Leider nicht alles, aber so wie es sich angehört hat, ist irgendwo noch eine Frau verschwunden. Gar nicht weit von hier.«
»Da war was im Puff«, rief Heinz Ölkers dazwischen. »Da war heute Morgen was los, Polizei und so. Ich hab mir nichts dabei gedacht, da kommt das ja öfter mal vor.«
»Du weißt also nichts Genaues?«
»Meinst du, ich bin hingegangen und hab gefragt?«
»Neugierig genug wärst du ja«, rief ein Scherzbold dazwischen.
»Nun gut, das kann ja viele Gründe haben. Aber wenn es so ist … dann war es ja nur eine Nutte. Ich habe aber noch gehört, dass Melanie Meyer«, hier platzierte Ulli geschickt eine Pause, und alle Blicke wanderten zu Melanies Vater, »die Polizei darauf gebracht hat, der Unfall könnte etwas mit dem Verschwinden von Jasmin zu tun haben. Oder umgekehrt.«
Im Saal machte sich Unruhe breit.
»Hört zu, Leute. Hört doch zu. Wir wissen ja alle, was damals passiert ist, daran ändert Jasmins Verschwinden jetzt auch nichts. Die Streeks sind weggezogen, deshalb sollten wir langsam anfangen, diese Geschichte zu begraben.«
»Richtig! Der Junge war schuld, was gibt’s da noch zu reden«, rief jemand in den
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