Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
entgegen.
Es war der Diensthabende der Alarmzentrale. Ein Taxiunternehmer aus Friedburg hatte vor einer Viertelstunde seine Taxifahrerin als vermisst gemeldet. Das leere Taxi stand an einer Bahnüberführung auf der Strecke zwischen Friedburg und Althausen, einem Nachbarort von Mariensee, der einige Kilometer weiter südlich lag. Nicht an dem Übergang, an dem Jasmin entführt worden war, sondern einem zweiten, kaum zwei Kilometer entfernt.
Neles Herz pochte wild, als sie das Gespräch beendete.
»Das darf nicht wahr sein!« Sie setzte sich auf.
»Was ist?«
Nele berichtete in kurzen Sätzen.
Dabei zogen sie sich rasch an. Zum Duschen war keine Zeit. Zwischendurch informierte Nele über Handy Tim Siebert und Eckert Glanz. Anou forderte den Hubschrauber und die Hundertschaft an, die das Gelände am Vormittag schon einmal abgesucht hatte. Es erging Anweisung, das Areal großräumig abzusperren. Diesmal hatten sie eine Chance, den Täter auf der Flucht mit dem Opfer zu erwischen. Viel Zeit war nicht vergangen.
Kaum zehn Minuten, nachdem Anous Finger auf Neles Lippen gelegen hatte, saßen die beiden in Neles Passat und rasten durch die leeren nächtlichen Straßen der Stadt. Anou fuhr, Nele telefonierte. Sie klingelte Dag Hendrik aus dem Bett. Als er sie vormittags von Döpners Entscheidung, keine gemeinsame Einsatzgruppe zu bilden, sondern separat weiterzuermitteln, unterrichtet hatte, war Nele erleichtert und zufrieden gewesen. Mit diesem Anruf sägte sie jetzt erneut an dem Ast, auf dem sie saß, doch das war ihr egal. Hier spielten sich Dinge ab, die wichtiger waren als karrierepolitische Machtspielchen. Es ging um Menschenleben.
Mit wenigen Worten hatte sie Kriminalrat Hendrik ins Bild gesetzt. Er versprach, sich sofort auf den Weg zu machen.
»Du hättest ihn nicht anrufen müssen, oder«, sagte Anou, ohne sie anzusehen, da sie sich bei dem hohen Tempo auf die Straße konzentrierte. »Morgen früh hätte gereicht.«
»Stimmt schon, aber er ist ja bereits involviert, und ich brauche ihn an meiner Seite. Du weißt doch, wie die Männer sind. Untergrab ihre Autorität, und du hast einen Feind fürs Leben. Außerdem ist er clever, und ich bekomme mehr und mehr den Eindruck, wir können in dieser Sache jeden cleveren Kopf gebrauchen.«
»Wegen der schnellen Folge der Entführungen?«
»Genau. Wenn es sich hier um einen einzigen Täter handelt, warum macht er das? Sexualtäter beschäftigen sich eine Zeit lang mit ihren Opfern, und selbst wenn sie sie getötet haben, dauert es danach Wochen, Monate, wenn nicht sogar Jahre, bis der Druck in ihnen sie erneut zum Handeln zwingt. Zumindest steht das so in den Lehrbüchern.«
»Dann haben wir hier jemanden, der sich nicht an Lehrbücher hält.«
»Oder jemanden, der völlig außer Kontrolle ist.«
Während er die große, schwere Frau auf seiner Schulter durch den nächtlichen Wald schleppte und dabei in der Regenbekleidung ins Schwitzen geriet, versuchte er krampfhaft, das Innere seines Kopfes unter Kontrolle zu bekommen. Noch immer wucherten Angst und Wut gleichzeitig darin, vermischten sich und bildeten eine hoch konzentrierte Säure, die sich von innen durch seinen Körper fraß. Er konnte immer noch nicht verstehen, warum er tief unter dem Waldboden, umgeben von meterdicken Betonwänden, das Lachen gehört hatte, dieses höhnische Lachen, dem er doch längst entkommen war. Das war schlimm, aber er durfte sich davon nicht zu Fehlern verleiten lassen, musste sich beruhigen, musste tief ein- und ausatmen. Doch das Gewicht auf seiner Schulter behinderte ihn dabei.
Nahe der hölzernen Schranke ließ er die Frau zu Boden fallen. Von ihrem Gewicht befreit richtete er sich auf, streckte den Rücken und hob sein Gesicht dem Himmel entgegen. Nur leichte Wolken zogen vorbei. Fahles, silbernes Mondlicht sickerte zwischen ihnen hindurch und ließ den Wald weniger finster erscheinen. Das Licht war sogar ausreichend, um das Gesicht der Frau betrachten zu können.
Sie war nicht nur schwerer als die anderen, sondern auch wesentlich älter. Er wusste schon jetzt, dass sie niemals ein prachtvolles, perfektes Kunstwerk abgeben würde. Vielleicht hätte er die junge Rothaarige länger behalten, sich intensiver mit ihr beschäftigen sollen! Vielleicht hätte sie ihm nach einiger Zeit ja doch noch gesagt, was er hören wollte. Aber das wäre dann falsch gewesen. Unehrlich. Sie hätte es spontan sagen müssen. Spontan und von Herzen musste es kommen. Andererseits, nur
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