Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
weil diese nicht mit Schönheit gesegnet war, musste das noch lange nicht bedeuten, dass sie Schönheit nicht zu erkennen vermochte. Sie war verbraucht, abgehärmt, vom Leben gezeichnet, aber vielleicht waren genau das die Attribute, die der Ersten gefehlt hatten? Nun, er würde es herausfinden.
Unvermittelt gab sie ein leises Stöhnen von sich und bewegte den Kopf. Ihre Lider zuckten. Sie durfte auf keinen Fall zu früh erwachen! Schnell, mit hektischen Bewegungen nestelte er das Tuch und die kleine Plastikflasche aus der Tasche seiner Regenjacke. Er tränkte den Lappen erneut, aber nur wenig diesmal, drückte ihn ihr auf Mund und Nase und ließ sie ein paar Mal einatmen.
Als er sich aufrichtete, hörte er ein Geräusch.
Eines, das nicht hierhergehörte.
Zunächst konnte er es nicht einordnen. Mit hängenden Armen stand er da, konzentrierte sich, lauschte. Das Geräusch näherte sich aus westlicher Richtung und wurde schnell lauter. Dann war es heran. Infernalisches Motorengeräusch, schreiende Turbinen, zerschnittene Luft. Ein Helikopter. Er senkte einfach nur den Kopf, damit sein Gesicht keine vom Mondlicht angestrahlte helle Scheibe ergab, und wurde in seinem schwarzen Ölzeug eins mit Wald und Dunkelheit. Das laute Flappen der Rotorblätter und
das Dröhnen der Turbinen wurden leiser, verschwanden alsbald völlig. Er sah dem roten und blauen Blinken nach. Sie flogen Richtung Osten. Diesmal hatten sie schneller reagiert. Trotzdem machte er sich keine Sorgen. Sein Versteck war sicher.
Er nahm die Frau erneut auf seine Schulter, umrundete die alte Schranke und setzte seinen Weg fort. Nicht mehr lange, dann würde er ihren Körper in Öl tauchen.
Das verwaiste Taxi stand auf der schmalen Straße vor dem Bahnübergang im harten Licht der Scheinwerfer, die auf zwei Meter hohen Metallständern thronten und die Szenerie in helles, kaltes Licht tauchten. Der beige Wagen mit dem noch leuchtenden gelb-schwarzen Schild auf dem Dach wirkte erschreckend einsam und verlassen, obwohl drum herum die fieberhafte Hektik des Einsatzes tobte. Er schien sich in einer anderen Wirklichkeit zu befinden, nur scheinbar Mittelpunkt der polizeilichen Ermittlungen, tatsächlich aber davon abgegrenzt und nicht zu erreichen. Wie ein Relikt, das durch ein Zeitfenster geschleudert worden war. Sichtbar zwar, aber doch nicht existent.
Nele Karminter stand mit auf den Hüften gestemmten Armen einige Meter hinter dem Taxi und beobachtete das Gewusel. Techniker, Fotografen, uniformierte Beamte, Beamte in Zivil, Einsatzwagen, Beleuchtung, Stimmengewirr, das Brummen des Generators – das Übliche eben. Es zog ihr den Magen zusammen, wenn sie an die Frau dachte, die vor wenig mehr als zwei Stunden in dem Taxi gesessen und darauf gewartet hatte, dass die Schranken endlich aufgingen. Eine ganz normale Frau, Mutter eines Kindes, wahrscheinlich verängstigt, aber ohne Wahl, weil sie ja ihrem Job nachgehen musste. Allein mit ihrer Angst, ihren Befürchtungen,
dem Täter hilflos ausgeliefert an einem Bahnübergang, kaum zwei Kilometer entfernt von jenem, an dem Jasmin Dreyer in der vorvergangenen Nacht verschleppt worden war. Während sie sich mit Anou im Bett vergnügt hatte, statt ihrem Job nachzugehen, hatte der Täter auf dreisteste Art und Weise erneut zugeschlagen. Hätte sie die Bahnübergänge überwachen lassen müssen? Warum, sie waren doch von einer isolierten Tat ausgegangen. Trotzdem, es blieb ein bitterer Beigeschmack. Sie hatte nicht alles bedacht, und deshalb gab es jetzt ein weiteres Opfer.
Lebte sie noch?
Spurentechniker des Dezernats, in weiße Spezialanzüge gehüllt, die im Licht der Scheinwerfer aus sich selbst heraus zu strahlen schienen, krochen in jede Ritze, in jeden Winkel, den es in dem Taxi gab. Was sie fanden – Haare, Fusseln, Kleingeld, Essenreste – wanderte in kleine Plastiktüten und erhielt eine entsprechende Aufschrift. Auch nach Fingerabdrücken wurde gesucht, doch der leitende Techniker, Joseph Sander, hatte Nele gleich jede Hoffnung genommen. In dem Wagen, so waren seine Worte gewesen, seien so viele Fingerabdrücke wie an der Tür eines Autobahnscheißhauses. Sie überlagerten sich derart, dass eine Abnahme und Spezifizierung unmöglich seien.
Uniformierte Beamte suchten im begrenzten Licht ihrer Taschenlampen die Straße, den kleinen unbefestigten Parkplatz, das vordere Stück des Waldweges und das Unterholz neben der Straße ab. Sie wagten sich bis auf zwanzig Meter in den Wald, weiter nicht, es war
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