Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Matratzen zu lindern. Nur widerwillig hatte Frauke sich darin eingewickelt. Ihre Nacktheit und die feuchte Kälte hatten sie dazu gezwungen. Er hatte sich nicht an ihr vergangen. Noch nicht. Aber er würde zurückkommen. Und was dann? War der große umgeschnallte Dildo nicht ein Versprechen dessen, was kommen würde? Es konnte doch nur einen Grund geben, warum er sie entführt und hierher verschleppt hatte.
Frauke wurde plötzlich schwarz vor Augen und schwindelig. Sie spürte ihren Magen rumoren, säuerlicher Geschmack stieg ihre Kehle empor. Schnell beugte sie sich über den Rand des Matratzenlagers, würgte und keuchte, konnte sich aber nicht übergeben. Als sie sich zurücklehnte, schloss sie einen Pakt mit sich selbst.
Ganz egal, was dieser Mann auch mit ihr anstellen würde, sie würde es überleben. Für Mandy. Sie würde diese Hölle lebendig verlassen. Der Körper konnte so vieles ertragen, wenn der Geist mitspielte.
Plötzlich musste Frauke an Jasmin Dreyer denken.
Das verschwundene Mädchen aus Mariensee, von dem
sie bis vor kurzem noch geglaubt hatte, sie wäre mit ihrem Freund getürmt. Nun sah das anders aus. Jasmin Dreyer war von demselben Mann entführt worden, aber sie war nicht hier.
Auch dafür konnte es nur einen Grund geben.
Anouschka Rossberg und Tim Siebert trafen sich fünf vor neun vor dem Dezernat. Beide trugen Jeans, Stiefel mit groben Stollen und hatten Regenjacken dabei. Noch war es trocken, aber der Wetterdienst hatte Regen angekündigt, und der graue, schwere Himmel schien ein Pfand für diese ungünstige Vorhersage zu sein. Anou hatte ihre dunkle Lockenpracht unter einer Baseballkappe gebändigt, auf deren Vorderseite der Abdruck einer Wolfstatze prangte. Tim beobachtete sie, während sie vor ihm die Treppe hochmarschierte. Sie war heute alles andere als weiblich angezogen, und trotzdem fand er sie sexy. Es gab wahrscheinlich keine Kleidung, in der sie nicht in irgendeiner Form sexy aussah. Sie würden heute viel Zeit zusammen verbringen, vielleicht ergab sich dabei endlich eine Gelegenheit, sie nach einem Date zu fragen. Er nahm es sich fest vor!
Bevor sie sich auf den Weg nach Eibia machten, fand eine Besprechung mit allen an diesem Fall Beteiligten statt. Als Anou vor Tim den schmalen, schlecht gelüfteten Raum betrat, blickte sie in graue, müde Gesichter, denen nur starker Kaffee aus dem Bett geholfen hatte – sofern sie denn überhaupt drin gewesen waren. Anou hatte drei Stunden geschlafen; das war nicht viel, reichte ihr aber vorerst aus. Die Energie, die fehlte, musste mehr starker Kaffee liefern, den ausnahmslos jeder vor sich stehen hatte. Wortlos wurde Milchpulver hin und her gereicht, Zuckerspender schabten über die Tischplatte, Löffel klimperten in Tassen. Schlechte,
destruktive Stimmung füllte den Raum beinahe spürbar aus.
Nele Karminter saß am Kopf der zu einer langen Tafel zusammengeschobenen Einzeltische und las in einer losen Blattsammlung. Anou betrachtete sie verstohlen. Im Gegensatz zu ihr war Nele nicht zu Hause gewesen. Sie trug noch die Kleidung, die sie hastig angezogen hatte, als sie in der Nacht vor dem Anruf aus dem Bett gerissen worden waren. Ihr blondes, halblanges Haar war ungewaschen, strähnig fiel es ihr in die Stirn. Tiefe Schatten lungerten unter ihren Augen, sprachen Bände über ihre Müdigkeit, gleichzeitig verriet ihre Körperhaltung aber auch Anspannung. Anou wäre gern zu ihr hinübergegangen, um sie in die Arme zu nehmen, doch das war unmöglich. Die engen Grenzen ihrer Beziehung wurden ihr in diesem Augenblick schmerzlich bewusst. Ein leiser, feiner Schmerz, der winzige Lücken aufzufüllen vermochte, um dort den Nährboden für Zweifel und Furcht zu bilden. Als Nele kurz aufsah, trafen sich ihre Blicke, aber ihre Geliebte und Chefin erlaubte sich nicht einmal ein kleines, verstohlenes Lächeln. Schade!
Nele nahm den Stoß Papiere, klopfte ihn auf der Tischplatte gerade, zog mit diesem mehrfachen Geräusch die Aufmerksamkeit der versammelten Mannschaft auf sich und erhob sich von ihrem Platz.
»Wir sind dann wohl alle da … Tim, machst du bitte die Tür zu?!«
Tim Siebert stand auf und wollte der Bitte nachkommen, als sich im letzten Moment Dag Hendrik in den Raum schob.
»Guten Morgen zusammen.«
Anouschka sah von Nele – die leicht zusammenzuckte – zu Hendrik auf. Auch er war nicht im Bett gewesen,
und einen Rasierapparat hatte er wohl nicht im Büro, einen Kamm schon gar nicht. Doch trotz seines nachlässigen
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