Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
links näherten sich langsam Lichter in der typischen Anordnung von Lokomotiven. Bald waren sie heran. Es handelte sich um einen Nahverkehrszug, der wohl im letzten Bahnhof haltgemacht hatte, und nur langsam wieder Fahrt aufnahm. Er war durchgängig beleuchtet. Nur wenige Fahrgäste saßen darin. Nele stand direkt an der Schranke und konnte daher die Gesichter hinter den großen Scheiben erkennen. Ein grauhaariger Mann sah sie direkt an. Er hob fragend die Augenbrauen.
Nele sah dem Waggon nach. War das die Verbindung?
Der Blick aus dem Waggon auf die Menschen, die an Bahnübergängen warteten? War der Täter ein Reisender oder ein Angestellter der Bahn?
Im ersten Fall würden sie ihn auf diesem Wege nicht ermitteln können. Im zweiten aber, wenn er tatsächlich Mitarbeiter der Bahn war und häufig diese Strecke befuhr, sollte es möglich sein. Nicht einfach, aber möglich. Leider würde es Zeit kosten – und Zeit hatten sie nicht.
Der Zug verschwand in der Nacht, und endlich öffneten sich die Schranken. Nele wollte sich schon abwenden und zum Wagen zurückgehen, da bemerkte sie aus den Augenwinkeln einen Lichtschimmer auf der anderen Seite des Gleisbettes.
Der ganze verdammte Tag lag in ihrem Nacken. Hart und verspannt wie Beton, bei jeder Bewegung unerträglich der daraus resultierende Kopfschmerz.
Anouschka Rossberg knallte die Wohnungstür hinter sich zu, feuerte ihre Schuhe achtlos in die Ecke, die schmutzige Jacke landete auf dem Boden, die Dienstwaffe samt Holster auf der blauen Couch. Ebenso lieblos ließ sie sich in den Schwingsessel fallen, der in Ausrichtung zum Fernseher stand. Sie war gefrustet, und das nicht zu knapp.
So ein verdammter Scheißtag!
Laufen! Ja, das würde helfen. Sie musste dringend mal wieder laufen, sonst würde sie den Frust, die Kopfschmerzen und den verspannten Nacken mit ins Bett nehmen und aller Wahrscheinlichkeit nach morgen früh auch wieder damit aufstehen. Ein paar Minuten ausspannen, einfach sitzen bleiben, versuchen, die Muskeln und Gedanken zu lockern und den Tag noch einmal Revue passieren lassen, danach die Laufschuhe schnüren und den Frust auf dem Asphalt der Straßen abarbeiten.
Sie legte die rechte Hand in den Nacken und massierte ihn leicht. Wünschte sich dabei, dass jemand da wäre, der
das tun könnte. Nicht irgendjemand, sondern Nele. Nele mit ihren schönen weichen Händen, den geschickten Fingern, die scheinbar immer genau wussten, wo sie zu sein hatten.
Nele!
Daher rührte eigentlich der Frust. Nicht von dem anstrengenden Tag im Wald oder der fruchtlosen Suche nach einem Entführer, dem sie noch nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen waren. So war eben der Job. Nicht bei jedem Fall gab es von Anfang an eine heiße Spur oder den Täter auf dem Silbertablett präsentiert. Anouschkas Studium war noch nicht allzu lange her, sie war alles andere als erfahren, aber zumindest das wusste sie, und es machte ihr nicht viel aus.
Nichtbeachtung aber schon!
Damit konnte sie nicht gut umgehen. Warum auch immer, es war eben so, und in diesem Augenblick hasste sie sich dafür, weil es ihre Gedanken und Gefühle für Nele trübte. Sie war ihre Liebhaberin, gleichzeitig aber auch ihre Vorgesetzte, hatte sie wirklich geglaubt, diese Konstellation würde keine Probleme aufwerfen?
Konnte eine solche Beziehung überhaupt bestehen? Nein, falsche Frage. Sollte sie sich um des Jobs willen gegen diese Beziehung wehren?
Ein eindeutiges Nein.
Von Beginn an, seit sie in Neles Abteilung versetzt worden war und beide ihre erste Unterredung geführt hatten, war klar gewesen, was kommen würde. Anou hatte einige Frauen im Bett gehabt, aber bei keiner von denen waren so viele Emotionen im Spiel gewesen, bei keiner hatte sie je das Gefühl gehabt, hier könnte es auf etwas Beständiges hinauslaufen.
Fühlte Nele auch so?
Noch gestern war Anou sich dessen absolut sicher gewesen, doch der heutige Tag – alles in allem eine einzige Katastrophe (einschließlich der Erkenntnis, dass Tim Siebert sie anzubaggern versuchte) – hatte erste Zweifel gesät. Schon allein die Tatsache, dass Nele sie dazu abkommandiert hatte, ausgerechnet mit Tim diesen beschissenen Urwald zu durchsuchen. Warum sie? Warum hatte sie nicht bei Nele bleiben und mit ihr arbeiten können? Jeder andere hätte ebenso gut mit Siebert durchs Geäst robben können.
Scheiße!
Anou sprang auf und lief ins Schlafzimmer.
Sie hatte es geahnt. Hinsetzen und die Seele baumeln lassen lief nicht. Ihr Kopf
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