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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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war zu voll, zu durcheinander. Sie musste laufen, jetzt sofort! Sie zog sich aus, den Laufanzug an, band sich die Schuhe, knotete die Haare zu einem Pferdeschwanz und verließ eilig die Wohnung.
    Es war sieben Uhr vorbei, viel Tageslicht gab es nicht mehr, aber da sie ohnehin in der Stadt bleiben und auf beleuchteten Bürgersteigen laufen würde, war es ihr egal. Von der Eingangsstufe der Haustür an spurtete sie los. Vergaß völlig die Aufwärmphase, legte gleich volles Tempo vor. Das würde helfen. Den Körper spüren und darüber den Kopf vergessen.
    In der Straße war es wie gewohnt ruhig. Anou war bewusst hierhergezogen. Sie mochte zwar nicht auf dem Land leben, wollte in der Stadt aber so ruhig wohnen, wie es eben ging. Irgendwo musste es in jedem Leben einen friedlichen Ort geben, und gerade wenn man sich im Tagesgeschäft mit Mördern und Vergewaltigern beschäftigte, sollte die eigene Wohnung eine Oase sein.
    Sie lief links den Bürgersteig hinunter. Die Luft war kühl, aber nicht kalt. Eine Ahnung von Frühling war darin enthalten.
Anou atmete gleichmäßig ein und aus, ihr Atem kondensierte und zeigte sich als dunstig weiße Fahne vor ihren Lippen. Die Laufschuhe platschten in ruhigem Tempo aufs Pflaster, die Muskeln ihrer Beine arbeiteten wie Kolben eines gut geschmierten Motors, ihr Pferdeschwanz wippte lebendig von einer Seite auf die andere.
    Ein gutes, ein befreiendes Gefühl.
    Eine Viertelstunde schaffte sie es, die Gedanken ruhen zu lassen, dann war Nele wieder da.
    Anou hatte sie am späten Nachmittag noch getroffen, aber nur kurz. Ebenso kurz angebunden war sie gewesen, hatte zwar Interesse gezeigt für die Flasche Babyöl, aber sonst nichts. Kein persönliches Wort, keine leichte Berührung der Finger, kein liebevoller Blick. Ganz Arbeit war sie gewesen, ganz Hauptkommissarin und Chefin. Hatte den Plan für den nächsten Tag ausgegeben, allen ihre Aufgaben zugewiesen und einigen gesagt, sie sollten Feierabend machen, da es nicht für alle etwas zu tun gab und sie morgen ausgeruhtes Personal benötigte. Es gehörte zu den Aufgaben einer Einsatzleiterin, die menschlichen Ressourcen so einzuteilen, dass eine langwierige Ermittlung durchgestanden werden konnte. Aber warum musste sie Feierabend machen und Nele nicht?
    Und warum die harte Abfuhr?
    Anou lief auf eine Kreuzung zu, die Fußgängerampel stand auf Rot. Keine Lust zu stoppen. Kein Auto in Sicht, sie lief einfach hinüber. Steigerte sogar die Geschwindigkeit noch und spürte schon die leichten Stiche in der Seite. Überhastete Atmung, sie lief zu schnell. Langsamer wollte sie aber nicht, die Schmerzen waren genau das, was sie jetzt brauchte.
    Ein Radfahrer kam ihr entgegen, sie wich aus. Ein Pärchen,
Arm in Arm, eng umschlungen, beanspruchte fast den gesamten Gehsteig. Sie wich wieder aus, überholte, spürte ihren Bauch sich zusammenziehen beim Anblick der Verliebten. Mann und Frau. Ganz normal. Nicht Frau und Frau, die sich immer noch verstecken mussten, auch in der heutigen Zeit, in der die Medien vorgaukelten, dass es normal sei, sogar chic, gleichgeschlechtlichen Sex und ebensolche Beziehungen zu haben. Blödsinn! Das galt vielleicht für New York und London, aber nicht für Lüneburg. Und schon gar nicht für Frauen, die in einer Männerdomäne arbeiteten.
    Das Schicksal war grausam. Warum musste sie sich ausgerechnet in ihre Chefin verlieben?
    Quietschen.
    Gummi auf Asphalt.
    Ein Schrei. »Vorsicht!«
    Haarscharf schoss der Fahrradfahrer an ihr vorbei. Anou spürte den Windzug, spürte die Gefahr, der sie gerade noch entgangen war.
    »Blöde Schnalle!« Der Junge zeigte ihr den Stinkefinger.
    Schluss jetzt , befahl sie sich selbst . Nele macht nur ihren Job, und wenn du damit nicht klarkommst, dann such dir lieber schnell eine andere.
    Nein. Sie würde lernen, damit klarzukommen. Diese Frau war ihr zu wichtig geworden in der kurzen Zeit, die sie sich jetzt kannten. Es gab eine Zukunft, und die wollte Anou sich nicht selbst zerstören durch Eifersucht und verletzte Eitelkeit.
    Die nächsten Schritte waren leichter, beschwingter, der Lauf nicht mehr so verbissen. Die Sohlen platschten, der Pferdeschwanz wippte, die Muskeln wurden warm und arbeiteten schmerzfrei.
    Sie lief, lief, lief.

    Nele war wie elektrisiert! Aus dem bereits geöffneten Holster zog sie mit einer geübten Bewegung ihre Dienstwaffe hervor und entsicherte sie. Langsam, die Waffe in die Richtung haltend, in der sie den Lichtschein gesehen hatte, überquerte sie die

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