Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
leuchteten Kerzen, stimmungsvolle Musik lief im Hintergrund, der Salat und die Baguettes waren zubereitet, der Rotwein bekam langsam die richtige Temperatur. Kurz, es war alles fertig!
Nur Nele fehlte noch.
Vor einer Stunde hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass Kriminalrat Hendrik sie noch kurz sehen wollte. Wie lange war bei Hendrik kurz? Hatte der Mann kein Privatleben? Gut, der Fall war wichtig, sie standen enorm unter Zeitdruck, mussten jeden Abend mit einer weiteren Entführung rechnen und hatten bisher nichts. Den Nachmittag hatten sie mit der Befragung in Friedburg verbracht – ohne Erfolg. Auch Tim und Eckert waren mit leeren Händen zurückgekommen. Und trotzdem, sie waren Menschen, brauchten Freizeit und Entspannung, ausgebrannte Ermittler waren nutzlos.
Nicht zuletzt deshalb hatte Anou sich vorgenommen, ihnen beiden einen unvergesslichen Abend zu bereiten. Einen Abend, der ihre Beziehung festigen sollte und jede Überlegung, ob sie sie wegen der zu erwartenden Probleme aufrechterhalten konnten, im Keim ersticken würde.
Ein Blick auf die Uhr. Kurz vor neun.
Anou schaute aus dem Fenster. Draußen war es längst dunkel. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Ein ungemütliches Wetter, aber bestens dazu geeignet, es sich daheim so richtig kuschelig zu machen. Sie suchte unter den Straßenlaternen nach Neles Wagen, doch er war noch nicht da.
Mein Gott, wie kann man nur so ungeduldig sein!
Das war der Lieblingsspruch ihrer Mutter gewesen für eine Tochter, die immer alles sofort haben musste, die nicht warten wollte und mit der das Leben manchmal ganz schön strapaziös sein konnte. Auf der anderen Seite war sie aber auch wissbegierig, lebenshungrig, unersättlich und ein freier Geist. Eine Mischung, die Abenteuer und ein aufregendes Leben garantierte. Anou mochte ihre Eigenschaften, auch wenn sie für ihre Umwelt mitunter anstrengend waren.
Plötzlich das Läuten an der Tür.
Anou erschrak, sah noch einmal aus dem Fenster.
Nein, Neles Wagen war nicht zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie woanders geparkt. Aber warum? Direkt vor dem Haus war ein freier Platz unter einer Laterne! Wollte sie nicht, dass der Wagen dort gesehen wurde?
Anou fegte alle Gedanken hinfort und eilte zur Tür. Sie trug eine hautenge Jeans und ein bauchfreies Shirt. Und sie war nervös wie ein Teenager vor dem Abschlussball. Ohne durch den Spion zu sehen riss sie die Tür auf. Nele sollte ruhig merken, wie sehr sie erwartet wurde.
Doch vor der Tür stand nicht Nele!
Anou hatte gerade noch Zeit, das zu registrieren. Sie wunderte sich, dachte an den Hausmeister und wurde im nächsten Augenblick schon von einem harten Schlag in den Bauch getroffen.
Von einer Sekunde auf die andere änderte sich alles.
Wo eben noch verliebtes Flattern gewesen war, brannten plötzlich helle Schmerzen. Die Luft wurde ihr aus dem Körper gedrückt. Sie stolperte nach hinten, rang nach Atem, presste die Hände in die Leibesmitte und sank auf die Knie. Sie bekam nicht mit, dass ihr ungebetener Gast ihre Wohnung betrat und die Tür hinter sich schloss. Nur langsam gelang es ihr, wieder einen Gedanken zu fassen.
Was geschah hier? Sie wurde überfallen! Aber wer? Und warum? Warum war es nicht Nele?
Anou stöhnte, versuchte den Kopf zu heben. Vor ihr stand ein Paar Beine in dunkler Ölkleidung, mehr sah sie zunächst nicht. Ölkleidung und feste Outdoorschuhe. Es roch nach Moos und Wald.
Überrasche ihn!
Tu so, als hätte der Schlag dich sehr hart getroffen, stöhne ein bisschen, und dann überrasche ihn.
Doch noch bevor Anou dazu kam, bewegte sich ein Bein. Schnell. Präzise. Der Tritt traf sie in die Seite. Ein wenig fester, und die Rippen wären gebrochen. Anou schrie auf, kippte auf die Seite und blieb röchelnd und zitternd dort liegen. Langsam begriff sie, dass sie keine Chance hatte. Sie hatte sich in ihrer Verliebtheit überrumpeln lassen wie eine Anfängerin, und was immer der Typ mit ihr vorhatte, er konnte es jetzt tun.
Anou blieb auf dem Teppich liegen und versuchte zu atmen. Ihre ganze Leibesmitte stand in Feuer. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln. Ein kleiner Bereich in ihrem Gehirn
versuchte ihr mitzuteilen, wo sie die Dienstwaffe hingelegt hatte. Die Ablage im Regal, unerreichbar fern, keine Chance.
Ihr Peiniger bewegte sich. Anou sah ihn nicht, doch sie konnte spüren, wie er sie umschlich. Er schaute in die Zimmer, schien sich sicher zu sein, genug Zeit dafür zu haben.
Plötzlich ein Gedanke, scharf und prägnant.
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