Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Er war es! Ihr Täter!
Bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, wurde ihr Kopf an den Haaren nach hinten gerissen und ein stinkender Lappen auf Mund und Nase gepresst. Anou packte das Handgelenk, wollte es fortreißen, doch der Gestank … stechend … bitter … ihre Gedanken … die Sinne … alles entschwand ihr, wurde gleichgültig … nur noch Dunkelheit, schlafen, schlafen …
Nele … hilf mir …
Ekliger kalter Nieselregen begleitete die Dunkelheit wie so oft in den letzten Tagen. Er verschmierte die Windschutzscheibe, und im rötlichen Streulicht der Bogenlampen verschwamm alles zu einer schmutzigen Suppe. Halb zehn vorbei, nur noch wenige Autos waren unterwegs, trotzdem musste Nele sich beim Fahren konzentrieren. Wenn es ein Wetter gab, das sie wirklich hasste, dann dieses! Depressives Mistwetter! Allerdings wie geschaffen für einen gemütlichen Abend auf der Couch vor dem Fernseher – oder im Bett!
Bei dem Gedanken huschte ihr ein Lächeln übers Gesicht, das gar nicht wieder verschwinden wollte. Wenn guter Sex zumindest vorübergehend einen Fall wie diesen vergessen machen konnte, wenn er den Kopf freipusten und die Seele erleichtern konnte, war Nele klar, warum sie in den letzten Monaten, bevor Anou in ihr Leben getreten war, so
oft schlechte Laune gehabt hatte. Etwas Essentielles hatte gefehlt.
Plötzlich konnte sie nicht schnell genug bei Anou sein.
Nele gab Gas.
Die Gibraltarstraße, in der Anouschka wohnte, lag ruhig da. Kein Mensch war bei dem Sauwetter draußen, nicht einmal die üblichen Hundebesitzer. Nur ein einziger Wagen kam Nele entgegen, der dafür aber mit überhöhter Geschwindigkeit, so dass Nele ihren Passat zwischen zwei geparkte Fahrzeuge quetschen musste, um einem Zusammenstoß zu entgehen. Der Wagen schoss vorbei. Ein Mann, den sie durch die feuchten Scheiben nur verschwommen sehen konnte, saß verkrampft hinter dem Steuer. Warum trug er eine schwarze Kapuze?
Nele schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Sie parkte ihren Dienstwagen in einer freien Nische direkt unter einer Straßenlaterne, schloss ab und lief mit eingezogenem Kopf durch den feinen Nieselregen.
Die Eingangstür des Wohnblocks war geöffnet, eine kleine ältere Frau stand im Licht der Flurlampe. Nele erkannte sofort, dass irgendwas nicht stimmte. Die Frau wirkte verängstigt, ratlos, wusste offenbar nicht, was sie tun sollte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sprach sie die Dame an. Sie trug einen Bademantel und Hauspantoffeln und war offensichtlich nicht darauf vorbereitet gewesen, die Wohnung an diesem Abend noch mal zu verlassen. Ihre Augen waren geweitet. Schreckgeweitet!
»Die Polizei …«, stammelte sie, »ich glaube, ich muss die Polizei rufen.«
Nele drückte sie in den schützenden Hausflur zurück und nahm ihre Hand. Sie war eiskalt.
»Was ist denn passiert? Ich bin von der Polizei.«
Erst jetzt schien die Dame sie wirklich zu bemerken. Ihre Lider flatterten, als müsse sie sich aus einer anderen Bewusstseinssphäre zurückkämpfen. »Haben Sie den gesehen? Der hatte doch jemanden auf dem Rücken.«
»Wie bitte?«
»Doch, bestimmt! Der kam von oben und hatte jemanden auf dem Rücken!«
Daraus wurde Nele nicht schlau. Die Frau faselte, schien aber nicht betrunken zu sein.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Ich … Gerda, Gerda Langerbein.«
»Und Sie wohnen hier im Haus?«
Heftiges Nicken. »Ja, hier im Parterre.«
»Hören Sie, Frau Langerbein. Mein Name ist Nele Karminter, ich bin Hauptkommissarin bei der Polizei. Sie können mir erzählen, was Sie gesehen haben.«
Die alte Dame packte Neles Unterarm. »Ich hab Sie doch schon hier gesehen, oder? Sie besuchen immer die nette junge Frau aus dem dritten Stock. Die mit der schönen dunklen Haut.«
Innerlich musste Nele lächeln. »Frau Rossberg, ja. Sie ist eine Kollegin.«
Ganz nah brachte die Dame ihr Gesicht an Neles. Sie konnte die dick aufgetragene Nachtcreme riechen.
»Der Mann … er hatte eine Frau auf dem Rücken, und ich glaube, es war Frau Rossberg.«
Nele starrte die Dame an. Zunächst sickerte nicht wirklich zu ihr durch, was sie gerade gehört hatte, dann aber machte es irgendwo Klick, und Neles Hand ging zum Achselholster, in dem die Waffe steckte.
»Gehen Sie bitte zurück in Ihre Wohnung«, wies sie Frau Langerbein an.
Die gehorchte natürlich nicht, aber das war Nele egal. In halsbrecherischem Tempo lief sie die Stufen in die dritte Etage hoch, zog oben auf dem Absatz die Waffe und erstarrte.
Die Tür zu
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