Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Anous Wohnung stand offen.
Vielleicht hat sie mich unten parken sehen und die Tür für eine besondere Begrüßung geöffnet , überlegte Nele.
Trotzdem stellten sich die Haare auf ihren Unterarmen auf, und ihre Kopfhaut zog sich zusammen. Ein dunkler, unaussprechlicher Verdacht manifestierte sich in ihr. Nein, das durfte einfach nicht sein!
Leise schob sie die Tür weiter auf und schlich zwei Schritte in die Wohnung. Sie stand auf dem Flur. Er war beleuchtet, aus dem Wohnzimmer flackerte Kerzenlicht, im Hintergrund lief seichte Musik, köstliche Düfte erfüllten die Räume. Aber da war auch noch ein anderer Geruch. Einer, der nicht hierher passte.
»Anou«, rief Nele verhalten.
Keine Antwort.
Mit einem Schritt war sie im Wohnzimmer, durchsuchte mit schnellem Blick den Raum, nahm sich dann Schlafzimmer und Bad und zum Schluss die Küche vor. Als sie wieder auf dem kurzen Flur stand, fiel ihr erneut der Geruch auf. Ein bitterer, chemischer Geruch.
Chloroform!
Wogegen ihr Verstand sich bis jetzt gesträubt hatte, wurde zur Gewissheit. Der Wagen, der durch die enge Straße gerast war, der vermummte Mann am Steuer, ein dunkler Kombi, vielleicht dunkelgrün, vielleicht ein Ford Mondeo...
Bevor Panik sie übermannen und ihr Denken blockieren konnte, griff Nele zum Handy und alarmierte die Kollegen.
Er war in Trance, nahm seine Umgebung kaum noch wahr und fuhr das Auto instinktiv und viel zu schnell. Er wusste, dass er vorsichtiger sein sollte, konnte aber gegen den Drang, sein Versteck so schnell wie möglich zu erreichen, nichts ausrichten.
Er hatte sie!
Und es war so verdammt einfach gewesen, dass es beinahe keinen Spaß gemacht hatte. Sie war eine Polizistin, ausgebildet, trainiert, jung und schnell. Trotzdem hatte sie gegen ihn nicht die geringste Chance gehabt, war ihm so hilflos ins Netz gegangen wie eine Fliege der Spinne. Er fühlte sich großartig, berauscht, fühlte sich dazu in der Lage, die Welt zu beherrschen.
Der Vater hatte unrecht. Er war doch zu etwas zu gebrauchen! Mehr noch! Er konnte tun und lassen, was er wollte, brauchte sich nicht um Gesetze scheren, denn er war allen anderen immer einen Schritt voraus. Das Stadium des gemeinen Menschen hatte er hinter sich gelassen. Schon damals, als dieses ungestüme, kraftvolle Etwas in seinem Inneren den Käfig zerstört und von ihm Besitz ergriffen hatte. Seit damals war er kein Mensch mehr. Er war zu etwas Höherem berufen.
Die dunkle Schönheit lag im Kofferraum des Wagens, versteckt unter einer Decke und einem Haufen Altpapier. Alles in ihm kribbelte, wenn er nur daran dachte, wie sie in seinem Versteck in den Ketten hängen würde, wie ihre sehnigen Muskeln im Licht der Kerzen glänzen würden, wenn er sie erst einmal eingerieben hatte.
O ja! Mit ihr würde er sich Zeit lassen. Sie war die Erfüllung seiner geheimsten Wünsche. Mit ihr würde er den alten Dämon endlich besiegen, daran bestand kein Zweifel.
In dieser Vorfreude drückte er noch ein wenig mehr aufs
Gaspedal. Plötzlich blitzte es aus einem grauen Kasten, der am Straßenrand auf einem Metallmasten befestigt war.
Er wusste genau, dass er in eine Radarfalle geraten war, ärgerte sich auch ein wenig darüber, maß dem aber keine große Bedeutung bei. Sollten sie doch sein Kennzeichen fotografieren. Den Wagen konnte er loswerden. Und sein Versteck, tief im Wald und unter der Erde, würden sie nie finden.
Vielleicht, so träumte er mit einem Lächeln auf den sanft geschwungenen Lippen, würde er es niemals wieder verlassen. Vielleicht würde er mit der dunklen Schönen dort unten die Ewigkeit verbringen.
Fünfzehn Minuten, nachdem Nele Karminter die Kollegen alarmiert hatte, trafen als Erste Tim Siebert und Eckert Glanz ein. Sie fanden ihre Chefin in Anouschka Rossbergs Wohnung. Tim bemerkte sofort, dass Nele sich nur noch mühsam aufrecht hielt. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch und vermied ihn nur durch hektische Aktivität.
»Er war es, das war unser Mann, das kann nur unser Mann gewesen sein …«, wiederholte Nele einige Male, nachdem sie ihre Kollegen ins Bild gesetzt hatte. Während Eckert sich um sie kümmerte, klemmte Tim sich ans Telefon und setzte den Polizeiapparat in Gang.
In aller Eile wurde eine Ringfahndung organisiert, Stra- ßensperren an den wichtigsten Routen postiert, jeder Beamte, der gerade verfügbar war, machte sich auf die Suche nach einem dunklen Kombi, wahrscheinlich der Marke Ford, mit einem Mann am Steuer und einer dunkelhäutigen
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