Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
bewusstlosen Frau im Kofferraum oder auf dem Rücksitz. Zusätzliche Beamte wurden aus dem Feierabend geholt. Binnen einer halben Stunde würde es in der Stadt vor Polizisten
nur so wimmeln. Wer bei klarem Verstand war, entführte keine Beamtin der Kripo, denn er musste wissen, was er damit lostrat und dass er nicht davonkommen würde. Und es war gerade dieser Gedanke, der Tim, Nele und Eckert am meisten Angst einjagte. Dieser Mann war nicht bei klarem Verstand. Er war unberechenbar, zielstrebig und hielt sich an kein Muster. Er war das nackte Grauen für jeden Ermittler.
Nachdem Tim die notwendigen Telefonate geführt hatte, ging er ins Parterre hinunter. Er fand Frau Langerbein in ihrem Wohnzimmer. Sie war aufgelöst und fahrig, alles andere als eine gute Zeugin. Ihre Herztabletten hatte sie schon genommen und wiederholte immer wieder, wie sehr sie jetzt ihren Herbert vermisse. Herbert war vor acht Monaten gestorben. Herbert hätte sie niemals nach Einbruch der Dunkelheit vor die Tür gelassen. Tim versuchte so etwas wie eine Vernehmung bei der alten Frau, merkte aber schnell, dass sie eigentlich nicht viel gesehen hatte und sich in ihrem jetzigen Zustand nicht mal an das Wenige korrekt erinnerte.
»Ein Unhold … ein Unhold kam die Treppe herunter und er trug etwas auf der Schulter … einen Menschen … die arme Frau Rossberg …«
Viel mehr bekam Tim nicht aus ihr heraus. Er überließ sie einem jungen Kollegen mit der Aufforderung, sie zum Arzt zu bringen.
Es ist zum Verrücktwerden!, dachte Tim. Da spaziert der Typ in ein Mehrfamilienhaus mitten in der Stadt, entführt eine Beamtin und verschwindet einfach so. Eine Minute! Nele hätte nur eine Minute früher …
Nein, diese Gedanken brachten nichts. Tim lief die Treppe hoch. In Anouschkas Wohnung hatten mittlerweile die Techniker der Spurensicherung ihre Arbeit aufgenommen.
»Bislang nichts in der Ringfahndung«, sagte Eckert, der auf dem Treppenabsatz stand und uniformierte Kollegen einteilte, die sich in der Straße und unter den anderen Nachbarn umhören sollten.
Tim schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. »Der Typ verhöhnt uns! Das kann doch alles nicht wahr sein, verdammte Scheiße! Wir lassen uns vorführen wie blutige Anfänger.« Er sah Eckert scharf an. »Irgendwann und irgendwo in den letzten Tagen ist er uns über den Weg gelaufen, hat uns beobachtet, wahrscheinlich über uns gelacht.«
Tim war so frustriert, dass ihm die Galle überkochte. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was Anouschka jetzt durchmachen musste. Es berührte ihn, mehr als er es von sich gewohnt war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sie heute Abend Besuch erwartet hatte. Als er vorhin die Wohnung betreten hatte, war es ihm sofort aufgefallen – das vorbereitete Essen, die vielen Kerzen, die Düfte; hier sollte jemand romantisch eingestimmt werden.
Irgendwie machte sie dieser Umstand sogar noch interessanter. Er war ein Mann, und es war nicht einfach mit einer derart attraktiven Kollegin eng zusammenzuarbeiten, ohne dabei etwas zu empfinden. Sie hatte ihn nicht spüren lassen, dass er einen Schritt weitergehen sollte, und doch machte es ihn fertig, dass er ihr nicht helfen konnte. Was sollte er tun? Sie hatten keine Spur, noch immer keine Spur.
»Wir müssen ihm irgendwo über den Weg gelaufen sein«, sagte jetzt auch Nele und trat auf den Flur hinaus. Tim sah, dass sie geweint hatte. »Er kann in Mariensee leben, in Friedburg, überall …«, sie schüttelte in einer verzweifelt anmutenden Geste den Kopf. »Wenn die Ringfahndung nicht greift … ich weiß auch nicht …«
Sie ließ den Satz und die Befürchtung, die darin enthalten
war, unvollendet. Was passieren würde, wenn der Täter es tatsächlich schaffen sollte zu entkommen, daran wollte jetzt keiner denken.
»Er kann sein Versteck in der Stadt haben«, sagte Eckert. »Wir können nicht die ganze Stadt durchsuchen. Wir haben ja nicht einmal den kleinsten Anhaltspunkt, wo wir mit der Suche beginnen sollen. Vielleicht ist das mit der Bahnschranke da draußen nur ein Zufall, vielleicht hat er sie nur ausgewählt, um uns auf eine falsche Spur zu locken.«
Tim Siebert war von der Diskussion genervt. Zu viele Fragen ohne Antworten. Er ging in die Wohnung zu den Technikern der Spurensicherung. Die hatten bisher nichts gefunden außer feuchten Trittspuren auf dem Teppich, anhand derer sich das Profil eines bestimmten Schuhes würde feststellen lassen. Das war aufwändig, dauerte und konnte am Ende
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