Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
wie ein Hund schlich er den Gang hinunter und blieb an der ersten Abzweigung stehen. Dort legte er den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und blähte die Nasenflügel. O ja, der Geruch war allgegenwärtig! Er erregte seine Sinne, ließ seine Muskeln vibrieren und steigerte sein Verlangen, ihr Blut zu vergießen.
Er lächelte, ahnte er doch, wo sie sich verborgen hielt. Sie war nicht dumm, und das Versteck hätte bei jemandem, der weniger olfaktorisch begabt war, funktionieren können. Nur eben nicht bei ihm.
Nach wenigen Minuten hatte er den Raum erreicht, in dem er das erste Mädchen abgelegt hatte. Hier war der Geruch am intensivsten. Ein schneller Schritt, und das Licht seiner Stirnlampe erhellte den kleinen Raum ausreichend. Deutlich war ihr Gesicht hinter der toten Fratze des Mädchens zu erkennen.
Die Augen weit aufgerissen, starrte sie ihn an.
Er ging zwei Schritte auf sie zu, und sie begann zu wimmern wie ein Hund, der Schläge kassierte.
»Du kannst dich nicht vor mir verstecken.«
»Komm, lass uns da drüben reingehen. Ich brauche jetzt unbedingt einen starken Kaffee und was zwischen die Zähne.«
Tim ging einfach voraus, ohne eine Reaktion seines Kollegen abzuwarten. Eckert Glanz starrte ihm einen Moment nach, grunzte dann missmutig und folgte ihm schließlich. Während er hinter Siebert das Cafe einer Bäckerei betrat, dachte er darüber nach, warum frustrierende und erfolglose Ermittlungsarbeit hungriger machte als erfolgreiche. Musste wohl daran liegen, dass man sich bei der ersten Variante zu viele Gedanken machte.
Sie bestellten beide einen großen Becher Kaffee und ein Stück Kuchen. In den ersten zwei Minuten am Tisch sprach keiner. Sie aßen, tranken, dachten nicht. Tim hatte sein Stück als Erster aufgegessen. Er rülpste verhalten, schob den Teller ein Stück weg und lehnte sich mit dem Kaffeebecher in der Hand nach hinten.
»Verfahrene Kiste«, sagte er.
Eckert sah ihn kauend an. Da er prinzipiell nicht mit vollem Mund sprach – er ekelte sich bei dem Gedanken, wie er mit zerkautem Speisebrei im Mund aussah -, musste Tim warten, bis er alles heruntergeschluckt hatte. »Was meinst du genau?«
Tim zuckte mit den Schultern. »Eigentlich den ganzen Fall, aber speziell die Bahn. Die Idee der Chefin ist nicht von der Hand zu weisen, aber du hast es ja eben selbst mitbekommen. Alle Zugbegleiter, Lokführer, Gleisarbeiter und sonstiges Personal zu überprüfen, das regelmäßig diese Strecke befährt oder befahren hat, dauert ewig. Und Zeit haben wir nun mal nicht, bei dem Tempo, das der Kerl vorlegt.«
»Immerhin hat es gestern Abend keine weitere Entführung
gegeben. Ich glaube sowieso nicht daran, dass er in dem Tempo weitermacht. Jeden Abend eine Frau, so etwas hat es doch noch nie gegeben. Vielleicht ist jetzt auch Schluss. Dann hätten wir nicht solchen Druck und könnten besser arbeiten.«
»Willst du es darauf ankommen lassen? Ich weiß nicht … wenn jemand erst einmal so abdreht, hört der nicht wieder auf. Aber das mit der Bahn können wir uns sparen, dass sag ich der Chefin nachher auch. Wenn es ein Ehemaliger ist, was ja naheliegt – denn wie soll er nebenbei noch arbeiten gehen -, finden wir den nie.«
»Gute Ermittlungsarbeit war schon immer Zeit raubend.«
»Mag sein, aber darauf hab ich keinen Bock.«
»Und was schlägst du stattdessen vor?«
»Da gehe ich mit Döpner und Hendrik konform. Wir brauchen einen Köder.«
Eckert wedelte mit der Hand. »Viel zu gefährlich in dem Gelände. Ich würde mich nicht freiwillig dafür melden, und eine Frau, die das tut, musst du erst mal finden.«
»Ist nicht meine Aufgabe. Ich sag ja auch nur, dass mir die Idee gefällt.«
»Ja, schon klar, weil du dann nicht herumlaufen und Fragen stellen musst. Vergiss es! Ich hol mir noch ein Stück von dem Kuchen. Der ist wirklich klasse. Soll ich dir eins mitbringen?«
»Nein, danke«, sagte Tim Siebert in Gedanken versunken.
5.
Tag, abends
Diese Ungeduld!
Ob sie irgendwann in ihrem Leben die Ungeduld in den Griff bekommen würde? Vielleicht als Rentnerin, mit all den Erlebnissen im Gepäck, welche diese Welt ihr zu bieten hatte, und dem sicheren Wissen, dass nichts Bedeutendes mehr kommen würde. Jetzt aber ganz sicher nicht, schon gar nicht, wenn sie auf Nele wartete. Jetzt war die Ungeduld quälend, ließ ihren Körper vibrieren, ließ sie ruhelos in ihrer Wohnung hin und her flitzen und jedes Detail zum dritten und vierten Mal überprüfen. Überall war es warm, überall
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