Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
war das silberne City-Bike mit dem bequemen Sattel, das er ihr vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.
Ihr Handy lag im Moos.
Jasmin!
»Da war ein Mann … ganz bestimmt, ihr müsst mir glauben!
Hartmut Meyer betrachtete seine Tochter Melanie und wusste nicht, was er davon halten sollte.
Völlig aufgelöst, zitternd, beinahe hysterisch war sie von ihrer Aerobicstunde zurückgekehrt. Ihrem ersten Wortschwall hatten weder Gudrun noch er etwas Sinnvolles
entnehmen können. Erst nachdem Gudrun ein paar Minuten beruhigend auf sie eingeredet hatte, war Melanie in der Lage gewesen, verständliche Sätze zu formulieren. Weinend und immer noch zitternd hatte sie erzählt. Von einem schwarz gekleideten, riesigen Mann, der sich an der geschlossenen Bahnschranke an ihren Wagen herangeschlichen und mit der Hand auf die Windschutzscheibe geschlagen hatte.
Das ergab doch keinen Sinn!
»Warum glaubt ihr mir denn nicht … ich hab mir das doch nicht eingebildet. Wir müssen die Polizei rufen!«
»Pssst«, machte Gudrun, nahm ihre Tochter fester in den Arm, drückte sie an ihren großen Busen und warf ihrem Mann einen vielsagenden Blick zu.
Nein, sie würden natürlich nicht die Polizei rufen. Das würde Gudrun nicht zulassen. Nicht nach dem unsäglichen Unfall von vor einem Jahr. Sie alle hatten in dieser Zeit viel durchgemacht, und die Wogen der Empörung begannen sich gerade erst zu glätten. Niemand hier konnte neue Aufregung gebrauchen. Melanie ganz besonders nicht. Die kaum verheilten Wunden würden wieder aufreißen, erneut die langen Sitzungen bei Dr. Lindtner, das Gerede der Nachbarn … nein, Gudrun hatte sicher recht, es gab keinen Grund, die Pferde scheu zu machen. Was sollten sie der Polizei auch melden?
Ein 19-jähriges Mädchen, das nach dem Unfall damals drei Monate lang in psychotherapeutischer Behandlung gewesen war, weil es eigentlich mit in dem Auto hätte sitzen sollen, fabulierte von einem schwarz gekleideten Mann, der nächtens Menschen an einer geschlossenen Bahnschranke erschreckte.
Melanie war immer zart besaitet gewesen, hatte, wie man
so schön sagt, zu nah am Wasser gebaut. Ganz das Gegenteil ihrer Mutter.
Hartmut stand mitten im Wohnzimmer, fühlte sich überflüssig und wusste nicht recht, was er tun sollte. Mit den Tränen seiner Tochter hatte er nie gut umgehen können, das Trösten war immer Gudruns Aufgabe gewesen, obwohl sie doch sonst mehr der herbe Typ war.
»Hartmut«, sagte seine Frau übertrieben laut, »nimm doch den Wagen und fahr nachschauen, ja.«
Dabei schüttelte sie aber leicht den Kopf, so dass Melanie es nicht bemerkte. Er sollte nicht wirklich fahren, es reichte, wenn Melanie daran glaubte.
»Ja, mach ich.« Hartmut wandte sich um.
»Papa«, rief seine Tochter, »sei bitte vorsichtig. Vielleicht ist er noch da!«
Ihre Blicke trafen sich. Was Hartmut Meyer in den Augen seiner Tochter sah, schockierte ihn. Diese nackte Angst! Kein Mensch konnte sich so etwas bloß einbilden.
»Keine Sorge, ich passe schon auf.«
Er verließ das Haus.
Draußen auf dem Hof atmete er einmal tief ein, dann nahm er die Packung mit den Zigaretten aus der Hemdtasche und zündete sich eine an. Im Haus erlaubte Gudrun das Rauchen nicht, also war ihre Idee in doppelter Hinsicht gut gewesen.
An der Zigarette ziehend ging Hartmut über den großen Hof zur Scheune. Die Wolkendecke war aufgerissen und ließ ein paar Sterne durchscheinen. Die Temperatur war gefallen. Der Zigarettenrauch zeichnete sich deutlich in der kühlen Nachtluft ab.
Vor dem geschlossenen Scheunentor parkte Gudruns Wagen, den Melanie ab und an benutzen durfte. Er war nicht
abgeschlossen, die Tür nur angelehnt, die Innenbeleuchtung brannte. In Panik und voller Angst hatte seine Tochter den Wagen fluchtartig verlassen.
Hartmut wollte die Tür gerade ins Schloss drücken, als ihm etwas auffiel. Auf der Windschutzscheibe setzte sich in der kühleren Nachtluft bereits Feuchtigkeit ab. Da das Licht im Innenraum noch brannte, konnte er deutlich die Umrisse einer großen Hand in den winzigen Wasserperlen erkennen.
Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund.
Er warf einen schnellen Blick zum Haus zurück, dann wieder aufs Auto. Schließlich holte er aus der Scheune die Sprühflasche mit Scheibenreiniger und bearbeitete den Abdruck so lange, bis er nicht mehr zu sehen war.
Dabei versuchte er, nicht nachzudenken.
Das neue Sweatshirt, vor drei Tagen gekauft, war blutig und zerrissen – nicht mehr zu gebrauchen. Sie
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