Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Einzelspiel in die Hose ging. Dann stieg er aus, verharrte einen Moment und beobachtete den Waldrand. Heute kam es ihm hier stiller vor, unheilvoller. Der graue Himmel lastete schwer über ihm, böiger Wind rauschte durch die farblosen Nadelbäume.
Plötzlich fühlte er sich allein. Nach dem Trubel in Anouschkas Wohnung war sein Adrenalinspiegel hoch gewesen, hatte ihn aufgeputscht und mit zu seinem Handeln gedrängt. Hier draußen am Waldrand gab es weder Trubel noch die Nähe seiner Kolleginnen und Kollegen, auf die er sich im Notfall verlassen konnte. Wenn er diesen Schritt wagte, war er auf sich allein gestellt.
Tim überprüfte seine Waffe, wechselte dann die Schuhe und zog die Regenjacke an. Die Taschenlampe klemmte er sich in den Hosengürtel. Vor der Schranke zum Waldweg blieb er stehen, atmete tief ein und las das verwitterte wei ße Schild.
»Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder.«
Nele Karminter fuhr auf direktem Weg zu ihrer Wohnung. Am frühen Morgen dort anzukommen war ungewohnt. Menschen auf dem Weg zur Arbeit kamen ihr entgegen, Busse luden Schulkinder ein, beim Bäcker wurden Brötchen verkauft. Alles lief wie immer, nur bei ihr nicht. Sie fühlte sich aus der Welt gerissen. So wie vor fünf Tagen nach dem schrecklichen Unfall auf dem Heimweg.
Sie hatte kaum mehr daran gedacht. War das wirklich
erst fünf Tage her? Wie konnte sich in so kurzer Zeit alles so dramatisch verändern? Allein die letzten Stunden waren die Hölle gewesen. Schon jetzt erschienen sie ihr surreal, so, als hätte sie sie gar nicht oder im Drogenrausch erlebt.
Das war zu viel, einfach zu viel!
Durch die Müdigkeit und den Schock war ihr Kopf blockiert, ließ keine Gedanken zu, die sich damit beschäftigten, was sein würde, wenn der schlimmste Fall eintrat. Nele wollte überhaupt nichts mehr denken. Ihr Körper funktionierte wie eine altersschwache Maschine, als sie die Treppenstufen zu ihrer Wohnung hochstieg, die Tür aufschloss und fest hinter sich verriegelte. Drinnen ließ sie ihre Kleidung fallen, wo sie gerade stand, ging unter die Dusche und duschte fast zehn Minuten unter zu heißem Wasser. Ihre Haut war gerötet und der kleine Raum vernebelt, als sie fertig war. Ohne sich abzutrocknen, ging sie ins Bett, schaffte es gerade noch, den Wecker auf elf Uhr zu stellen, und fiel sofort in unruhigen Schlaf.
Sie träumte schlecht, aber Anou kam nicht darin vor.
Es war ihr nicht vergönnt, bis zum Läuten des Weckers zu schlafen. Nach anderthalb Stunden klingelte das Telefon auf dem Nachtschrank und riss sie unsanft hoch.
Völlig neben der Spur nahm Nele den Hörer ab und meldete sich.
Es war Eckert Glanz.
»Wir haben was. Ich habe alle Radarfallen überprüfen lassen. Ein Starenkasten hat gestern Abend einen Wagen fotografiert, der mit überhöhter Geschwindigkeit aus der Stadt gefahren ist. Einzelner Mann, dunkler Kombi. Ist gerade reingekommen. Ich überprüfe sofort das Kennzeichen. Kommst du?«
»Gib mir eine halbe Stunde.«
Nele sprang aus dem Bett und lief ins Bad. Ihr Anblick im Spiegel ließ sie an der halben Stunde zweifeln. Ihr Haar war im Schlaf getrocknet und sah dementsprechend aus. Sie hielt den Kopf ins Waschbecken, wusch sich ihr Haar noch einmal und föhnte es halb trocken. Dann zog sie frische Kleidung an, nahm einen Apfel aus dem Obstkorb in der Küche und verließ fluchtartig das Haus. Als sie während der Fahrt den Apfel aß, spürte sie erst, wie hungrig sie war. Sie würde im Dezernat jemanden losschicken, um etwas vom Bäcker zu holen.
Im Büro herrschte Hektik.
Eckert, Hendrik und drei weitere Beamte, deren Namen Nele nicht einfielen, standen um Eckerts Schreibtisch.
»Da bist du ja!«, wurde sie von Eckert begrüßt. Hendrik nickte ihr zu und musterte sie eindringlich. Wie sah sie aus? Erholt? Noch schlechter als vorhin? Im Moment fühlte Nele sich gut, aber das lag an dem Adrenalin und daran, dass es endlich eine Spur gab.
»Schneller ging nicht. Habt ihr was?«
Eckert nickte und deutete auf einen Computerausdruck. »Karel Murow. Achtundzwanzig. Wohnhaft hier in Lüneburg. Adalbert-Stifter-Str. 17. Nicht vorbestraft.«
»Wir fahren sofort los. Hast du ein SEK-Team?«
Hendrik nickte. »Ist in zwanzig Minuten einsatzbereit bei der Adresse. So lange brauchen wir auch bis dorthin. Das Haus liegt im Randbezirk.«
Nele nickte. »Gibt es sonst noch etwas über den Mann?«
»Nicht in der Verkehrsdatei und bei uns auch nicht. Ich lasse aber gerade die Familie
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