Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde
Anlass.«
Nele nickte. In ihrem Kopf fanden verschiedene Teile eines Puzzles zusammen. »Okay … danke«, sagte sie zu Holzkamp, der sich entschuldigte und den Raum verließ. Es hallte, als er die Tür hinter sich zuzog.
Nele sah Dag Hendrik an. »Macht Sie das genauso hellhörig wie mich?«
Er nickte. »Es könnte der Auslöser für sein Handeln sein. Allerdings mache ich mir darüber im Moment weniger Gedanken als über seinen Aufenthaltsort.«
Mit einem leisen Quietschen schwang auf der entgegengesetzten Seite des Raums eine Tür auf. Eine junge Beamtin führte Magdalene Murow herein.
Die Frau trug den üblichen blauen Anstaltsanzug, bestehend aus Hose, T-Shirt und dünner Stoffjacke. An den Füßen trug sie moderne, billige Turnschuhe. Ihr Haar war stahlgrau und fiel bis auf die runden Schultern, die tief nach
vorn hingen und den Rücken beugten. Sie war ohnehin nicht groß, durch ihren gebeugten Gang wirkte sie noch kleiner. Nervöse blaue Augen huschten hin und her, wussten nicht, wo sie sich verstecken sollten. Die Beamtin führte sie zu einem Tisch, rückte den Stuhl ab und half ihr beim Setzen. Dann verschwand sie mit einem Nicken.
Nele Karminter und Dag Hendrik ließen sich Magdalene Murow gegenüber nieder. Das Scharren der Stühle auf dem gekachelten Boden war entsetzlich laut.
Die gebeugte Frau ließ den Kopf hängen und starrte die Tischplatte an. An ihrem Hinterkopf zeichnete sich eine beginnende Glatze ab. Sie roch unangenehm. Nach was, konnte Nele nicht identifizieren.
»Frau Murow?«, sprach Nele sie an.
Die Frau sah nicht hoch, nickte aber.
»Ich bin Hauptkommissarin Nele Karminter, dies ist mein Kollege, Kriminalrat Hendrik. Wir möchten Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Zu Ihrem Sohn Karel.«
Wieder nickte sie nur, ohne den Kopf zu heben.
»Sie haben doch einen Sohn, der Karel heißt, nicht wahr?«
Ihre Antwort ließ lange auf sich warten.
»Ja.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
Nele spürte, dass sie mit dieser Frau sensibel umgehen musste, trotz des Zeitdrucks, unter dem sie standen.
»Vor zwölf Jahren.«
»Sie hatten also keinen Kontakt mehr, seitdem Sie hier sind?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Frau Murow«, begann Nele und beugte sich näher zu der Frau hinüber. »Ich habe wenig Zeit, es geht um Leben
und Tod. Wir sind auf der Suche nach Ihrem Sohn, weil er dringend tatverdächtig im Entführungsfall einer Kollegin ist. Wir müssen wissen, wohin er diese Kollegin gebracht haben könnte. Die Wohnung ihres Sohnes in der Adalbert-Stifter-Straße haben wir bereits durchsucht, dort ist er nicht. Können Sie uns sagen, wo wir nach ihm suchen sollen? Gibt es einen Ort, an dem er sich als Kind gern aufgehalten hat?«
»Er wird Ihre Kollegin töten.«
»Wie bitte?«
»Das müssen Sie wissen. Er wird Ihre Kollegin töten.«
»Wieso sagen Sie das?«
Jetzt hob die alte Frau den Kopf und sah sie an. Ihre Augen waren durchsichtig und feucht. »Weil er seines Vaters Teufel in sich trägt.«
»Frau Murow … gerade deswegen müssen wir Ihren Sohn so schnell wie möglich finden. Bevor er eine Dummheit begeht, die nicht wieder rückgängig gemacht werden kann.«
Nele vermied es absichtlich, von den anderen entführten Frauen zu berichten. Zum einen ging es die Frau nichts an, vor allem aber wollte sie die labile Person vor sich nicht verschrecken.
»An allem ist nur sein Vater schuld.«
Nele hätte aus der Haut fahren können. Mit einem Seufzer ließ sie sich zurückfallen. Die Zeit brannte ihr unter den Nägeln, und diese Frau wollte über ihre Vergangenheit reden. Am liebsten hätte sie sie gepackt, geschüttelt und sie angeschrien: »Du blöde Kuh, sag mir endlich, wo dein missratener Sohn steckt!«
Hendrik schien zu spüren, was in ihr vorging. Ohne dass Frau Murow es sehen konnte, berührte er Nele kurz am Oberschenkel, warf ihr einen vielsagenden Blick zu und beugte sich nach vorn, um das Gespräch zu übernehmen.
»Woran ist sein Vater schuld, Frau Murow?«
Sie sah ihn an, als bemerke sie erst jetzt, dass er auch mit am Tisch saß.
»An allem. Er war ein Ungeheuer.«
»Das Sie getötet haben.«
Darauf antwortete sie nicht. Sie knetete ihre wurstigen Finger. In den Handinnenflächen hatte sie dicke Schwielen.
»Oder nicht?«
Ruckartig sah sie Hendrik an. Plötzlich wirkte sie gehetzt.
»Haben Sie ihren Mann wirklich getötet, Frau Murow, oder war es vielleicht Ihr Sohn, Karel?«
»Was sagen Sie da! Ich habe es getan, ich ganz allein. Und er hatte es
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