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Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde

Titel: Tief im Wald und unter der Erde - Winkelmann, A: Tief im Wald und unter der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Güterzüge, hinterließ aber einen kräftigen Sog, der geisterhaft durch den wilden Garten fuhr.
    Der Bahndamm! Schon wieder eine Verbindung. Scheinbar hatte die Kindheit hier Karel Murow geprägt.
    Die Hütte bestand aus groben Holzbrettern, die schon vor Jahren hätten gestrichen werden müssen. Nun waren sie verquollen, aufgeworfen und mit silbriger Patina überzogen. Dort, wo sie ständig mit Regenwasser in Berührung kamen, waren sie grün und von Moos bewachsen. Das Dach, mit Teerpappe belegt, war wellig, an manchen Stellen tief eingebogen, und der Zustand der Pappe ließ erahnen, dass es durchregnete.
    An der Tür hing ein altes Vorhängeschloss. Derart verrostet, das kein Schlüssel es jemals wieder öffnen würde. Das war aber auch nicht nötig. Den ans Holz geschraubten Riegel konnte Hendrik ohne große Kraftanstrengung abnehmen. Was er auch tat.
    »Kein Einbruch«, sagte er zu Nele, »Sie haben selbst gesehen, dass es schon kaputt war, nicht wahr?«
    Nele nickte. »Unbedingt.«
    Die Scharniere quietschten jämmerlich. Das Geräusch war unweigerlich in der gesamten Kolonie zu hören. Schon streckte Siebenschlag seinen Kopf über den Zaun, um zu sehen, was sie da taten. Er sagte aber nichts.
    Muffige, feuchte Luft schlug ihnen entgegen.

    »Puh«, machte Hendrik und wedelte mit der Hand.
    Er trat als Erster über die Schwelle, Nele folgte ihm.
    Die Hütte bestand aus einem einzigen großen Raum, mit einem einzigen großen Fenster, das nach vorn rausging. Es war durch eine vergilbte Gardine verhängt, die nur diffuses Licht in den Raum ließ. An der hinteren Wand gab es einen Verschlag, das Zeichen auf der Tür deutete auf den Abort hin. In der Mitte stand ein großer Tisch, drum herum vier Stühle mit Stoffauflagen, die von Motten zerfressen waren. Im Licht über dem Tisch tanzten Milliarden Staubflocken, die sie beim Hereinkommen aufgewirbelt hatten. Überhaupt war alles von einer dicken Staubschicht bedeckt – bis auf eine Stelle am Tisch.
    Dort hatte vor kurzem jemand gesessen. Zweifelsohne!
    Hendrik und Nele sahen sich nur an. Worte waren nicht nötig.
    Die Klappcouch, die an der hinteren Wand stand, war ebenfalls benutzt worden. Die Decken darauf waren nicht annähernd so alt wie die Stuhlauflagen – und sie waren zerwühlt. Eine Kuhle zeichnete sich in der tief durchhängenden Matratze ab.
    »Da«, sagte Hendrik und wies auf eine Holztür in der linken hinteren Ecke.
    Nele stand am nächsten, drückte die Klinke nieder und öffnete die Tür. Plötzlich stand sie hinter der Hütte vor einem riesigen Vogelbeerbusch. Keinen Meter entfernt umgab die Parzelle ein Maschendrahtzaun, der keine Farbe mehr hatte und auch nicht sonderlich stramm gespannt war. An einer Stelle, nah am Pfosten, war er sogar bis auf den Boden heruntergedrückt. In dem hohen trockenen Gras dahinter führte eine deutliche Spur direkt auf den circa vier Meter hohen Bahndamm.

    »Jemand war hier«, sagte Nele zu Hendrik, der hinter sie getreten war, »und der neugierige Herr Siebenschlag hat es nicht bemerkt, weil die Person über den Bahndamm gekommen ist.«
    Hendrik nickte. »Kann aber auch ein Obdachloser gewesen sein.«
    »Möglich, ja, wäre aber sehr zielstrebig für einen Obdachlosen.«
    Sie wendeten sich wieder der Hütte zu.
    Das gesamte Mobiliar bestand aus dem Tisch, den Stühlen, dem Klappbett, einem zerfransten Sessel und einer ausrangierten Wohnwand aus furniertem Holz. Genau über dieser Wohnwand war das Dach undicht. Wasser war hereingelaufen und hatte seine Spuren hinterlassen. Das billige Pressholz war an einigen Stellen dick aufgequollen. Diese Stellen wirkten wie bösartige Tumore.
    Nele betrachtet die Wohnwand.
    In dem Regal in der Mitte stand eine Anzahl Bücher, augenscheinlich alle aus der Zeit, als diese Parzelle noch genutzt worden war. In der dicken Staubschicht vor den Büchern gab es eine Schleifspur. Sie war bereits wieder eingestaubt, jedoch nicht so dick wie rechts und links daneben. Dort war vor einiger Zeit ein Buch herausgezogen worden. Nele streckte die Hand nach einem schmalen Werk aus, das dem Papierumschlag zur Folge genauso alt war wie die anderen. Sie zog es vorsichtig heraus und hielt es ins Licht.
    Eibia – Geschichte einer Nazi-Munitionsfabrik , stand auf dem alten, bleichen Schutzumschlag zu lesen.
    Neles Magen drehte sich um, und ihr wurde schlecht.
     
    Die Übelkeit hatte sich in kleinen Wogen zu einer Welle emporgeschaukelt und war nun nicht mehr aufzuhalten.
Ihre Gedanken darauf

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