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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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Roddy undeutlich die großen, dunklen Leiber der Wale erkennen. Gähnend wandte er sich vom Fenster ab und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.
    *  *  *
    4 Uhr 45. Das schrille Klingeln des Telefons riss Roddy aus dem Tiefschlaf. Als er abnahm und verschlafen »Ja?« in den Hörer krächzte, hielt sich Margaret Gilchrist, die Vorsitzende des Notfallkomitees, nicht mit Begrüßungsfloskeln auf. Sie sagte einfach, was passiert war.
    »Was?«
    Sie wiederholte es. Roddy erstarrte.
    »Haben Sie mich verstanden?«, fragte Margaret Gilchrist.
    Er gab einen zustimmenden Laut von sich. Roddy starrte auf den Hörer in seiner Hand und dachte: Bitte, bitte, lass es nicht wahr sein, bitte, das ist ein Albtraum, gleich wache ich auf …
    Als Roddy nur wenige Minuten später aus dem Hotel gerannt kam – die Sonne ging gerade auf, und ein paar Frühaufsteher unter den Schaulustigen schälten sich aus ihren Schlafsäcken –, sahen die Wale nicht anders aus als sonst. Wilde Hoffnung stieg in ihm auf. Keuchend lief er zum Operationszentrum und stürzte hinein.
    »… wie wird man tausend Tonnen toten Wal los?«, sagte Margaret Gilchrist gerade düster.
    Im Raum wurde es still. Fünf oder sechs Mitglieder des Komitees waren anwesend und etwa zwanzig andere. Auch Derek war da. Er saß auf einem Plastikstuhl und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Hinten im Raum standen zwei Tierärzte; auch sie beendeten abrupt ihre Diskussion. Niemand rührte sich mehr.
    »Es ist nicht wahr, oder?«, sagte Roddy schließlich so verzweifelt, dass niemand im Raum es jemals vergessen würde. »Was ist passiert?«, heulte er auf. »Derek, was ist passiert?«
    Sein alter Freund sah ihn an und schüttelte den Kopf.
    »Einem der Mentoren ist aufgefallen, dass sein Wal lange Zeit nicht mehr geatmet hat«, sagte eine Frau mit gepresster Stimme. »Ich bin hingelaufen, und dann … dann habe ich festgestellt, dass kein Wal mehr atmete.«
    »Sie sind alle tot«, sagte Margaret Gilchrist eisig.
    Roddy rannte hinaus. Die Mentoren standen traurig herum. Roddy lief an zwei jungen Frauen vorbei. Er konnte ihnen nicht in die Augen schauen. Bei einem Seiwal blieb er stehen. Wie konnte dieses fantastische Geschöpf tot sein? Seine Haut glänzte feucht. Er ist nicht tot, dachte Roddy. Aber als er den Film über dem offenen Auge sah, wusste er Bescheid. Er stach mit dem Finger direkt darauf zu, aber nichts passierte. Und auch, als er das Auge berührte, zuckte das Tier nicht. Es war tot.
    Langsam schob sich die Sonne über den Horizont. In diesem Moment hörte der feine Sprühnebel, der seit Tagen vom Meer heraufgepumpt wurde, auf. Roddy blickte sich verzweifelt um. Wer hatte das angeordnet? Es war viel zu früh. Er rannte zu einem anderen Wal, einem Pilotwal, aber auch bei ihm lag der Todesfilm über dem Auge.
    Er warf sich gegen die Flanke eines Pottwals. Er lebt bestimmt noch, bitte, lass ihn lebendig sein! Wie ein Irrer rannte er über den Kies zwischen den mächtigen Leibern hin und her. Pottwale, Pilotwale, ein Killerwal, noch ein Seiwal. Alle waren sie tot.
    Die Schaulustigen, die mitbekommen hatten, dass das Wasser abgestellt worden war, wurden unruhig. Vereinzelt ertönten Pfiffe und Rufe.
    Margaret Gilchrist war ihm gefolgt. Begleitet von einem halben Dutzend nun überflüssig gewordener Mentoren, trat sie zu ihm. Er hockte im Kies neben einem Pilotwal, den Kopf an die Flanke des Tiers gedrückt. Als er aufsah, hatte er Tränen in den Augen.
    »Ich glaube, Sie gehen besser, bevor die Leute merken, was los ist. Ihre Polizisten warten im Operationszentrum auf Sie. Dr. Ormond …«
    Sie streckte beinahe liebevoll die Hand aus. Roddy ergriff sie und stand auf. Widerstandslos ließ er sich von ihr wegführen.

Zwischenspiel
    Die vier japanischen Kühlschiffe arbeiteten dicht beieinander, so dicht, dass sich die Mannschaften gegenseitig gutmütige Neckereien zurufen konnten. Es herrschte starker Seegang, und die Geräusche des Meers übertönten fast das Dröhnen eines Motors. Eine dicke Kette, jedes Glied einen halben Meter lang, wurde über die Rampe eines Schiffs hochgezogen. Das offene Heck erinnerte an das in Erwartung der Beute aufgesperrte Maul eines Seeungeheuers, und die Rampe, die ins Meer hinausragte, war wie eine gierige, nasse Zunge.
    Bis jetzt waren sechs Kadaver auf die vier Schiffe gehievt worden, und die Seeleute häuteten und zerlegten sie, damit sie eingefroren werden konnten. Aber es gab noch Dutzende weiterer Wale, die an Bord gezogen

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