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Tief

Tief

Titel: Tief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Croft
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werden mussten. Auf Anweisung von Dr. Derek Petersen, dem neuen Leiter des Wal-Krisenkoordinationsteam, hatte man die unglückseligen Kreaturen, die am Strand von Brighton gestorben waren, aufs offene Meer hinausgeschleppt. Damit würde das große Gesundheitsrisiko an Land eingedämmt werden, hatte er auf einer Pressekonferenz gesagt, und es sei die umweltbewussteste Methode der Entsorgung.
    Die toten Tiere, die locker zusammengebunden waren, trieben leblos in den Wellen. Zwei Arbeiter in einem kleinen Boot legten eine Kette um die Schwanzflosse eines Wals. Sie lachten laut, es hatte wohl etwas mit der Frau eines Kollegen zu tun, die für alle und jeden die Beine breit machte. Immer noch wiehernd vor Lachen, sicherten sie die Kette und gaben dem Mutterschiff ein Signal. Ein weiterer Motor wurde angelassen, die Kette spannte sich, und dann wurde der Wal durchs Wasser gezogen. Langsam glitt die Kette über die Rampe.
    Stundenlang ist Blackfin durch eine düstere, unbekannte Welt getrieben. Manchmal sieht er ein flackerndes Licht; es wird heller, wenn er sehnsüchtig darauf zuschwimmt, wird so schön, dass er am liebsten darin eintauchen möchte … Aber dann hört er seltsame Koloraturen, wie er sie nie zuvor vernommen hat, die ihm sagen, er soll leben, leben. Dann wird das Licht wieder schwächer, er spürt, dass die wirkliche Welt auf ihn wartet, und er hört ein schreckliches Stöhnen und Klopfen, und als er zu sich kommt, als seine Lungen sich weiten, wird seine Schwanzflosse gerade eine Rampe hinaufgezogen, in den Bauch eines Gefrierschiffs hinein.
    Halb im Wasser und halb im Schiff bäumt er sich auf, was den vier oder fünf Japanern, die glaubten, einen Kadaver an Bord zu ziehen, Schreie voller Panik entlockt. Mit sämtlicher Kraft, die ihm noch geblieben ist, bewegt Blackfin die Schwanzflosse. Die Kette fliegt in die Luft, schlägt klirrend auf der Metallrampe hoch. Aber immer noch zieht der Motor ihn die Rampe hinauf. Blackfin liegt ganz still da, alle Kraft hat ihn verlassen. Die Japaner schlagen wütend mit Stöcken auf seinen Schwanz ein und schreien dabei unverständliche Worte. Schon schlägt Blackfins Kiefer auf Metall, und etwas auf der Rampe bohrt sich in seinen Speck. Erneut sieht er das flackernde Licht, es zieht ihn an, es glüht vor Schönheit, aber immer noch hört er die Musik, er soll leben, leben, und elementare Wut rast durch seinen Körper. Wieder peitscht die Kette durch die Luft. Einen Moment lang liegt Blackfin noch hilflos angekettet auf der Rampe, aber dann verkündet ein hoher, heller Ton, dass eines der Kettenglieder gebrochen ist. Unter dem Geschrei der Seeleute rutscht Blackfin die Rampe hinunter.

Teil II
    1
    Es war ein Donnerstagmorgen, einige Tage nach dem Tod der Wale. Im Schlafzimmer der von ihnen besetzten Wohnung in Worthing lagen Ally und Dave im Bett. Das Radio lief leise. Dave drehte sich um, wachte auf und wollte gerade den Arm um Ally legen, als ihm einfiel: kein körperlicher Kontakt. Wieder einmal wünschte er sich, nichts mit dem Mädchen angefangen zu haben, das ihn angemacht hatte; dann hätte er Ally den Seitensprung nicht zu gestehen brauchen, und alles wäre weitergegangen wie bisher.
    Draußen fuhr ein Auto vorbei und übertönte die tapferen Bemühungen einer Amsel. Ally schnarchte leise. Dave hätte ihr gerne über den Nacken gestreichelt, traute sich aber nicht. Theoretisch beschloss er aufzustehen, praktisch war er aber noch nicht so weit, also blieb er liegen und döste noch ein wenig. Seine Gedanken trieben dahin. Ein zwitschernder Vogel; ein Vogel mit einem menschlichen Gesicht; ein Vogel mit einem menschlichen Gesicht, der auf seiner Schulter hockte und einen langen, tonlosen Triller von sich gab …
    Mist, die Türklingel … Er stand auf und tappte zum Fenster.
    »Wer ist das?«, murmelte Ally. »Diese andere Frau?«
    »Ally«, sagte er kläglich. »Es ist tatsächlich eine Frau, aber sie erinnert mich eher an deine Mutter.«
    Erneut klingelte es an der Tür, dann drang eine Stimme durch den Briefkastenschlitz.
    »Ally? Ally, bist du da?«
    »Mein Gott, das ist meine Mutter!«, schrie Ally und setzte sich auf.
    »Ally! Ally, Liebling!«, rief ihre Mutter.
    Eine halbe Minute später stand Ally an der Haustür und blickte der gebeugten Gestalt ihrer Mutter nach. Sie zögerte eine Sekunde: Wenn sie glaubt, ich könnte einfach so vergessen, wie sie Dave abgelehnt hat …
    »Mama! Mama! «, rief sie dann.
    Theresa drehte sich um und kam schluchzend

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