Tief
Ausländische Nachrichtensender strömten auf der Suche nach Antworten in Richtung Brighton und London. Auch die großen Filmgesellschaften Hollywoods waren vor Ort, und jeder suchte nach einem Ansatz, um das Ereignis als sein intellektuelles Eigentum zu beanspruchen; eine ähnliche Schlacht spielte sich in der Videospiel-Branche ab, und die riesigen, seelenlosen Fabriken in China produzierten mit Hochdruck billige Plastikwale für den westlichen Markt.
Wenigstens kann es jetzt nicht noch durchgeknallter werden, sagte sich Whitaker.
Und dann kam der Konvoi.
* * *
V. A. Apukkatan war ein illegaler Immigrant aus Tamil Nadu in Südindien. Um seine Frau, seine beiden Söhne und seine Schwiegereltern zu Hause ernähren zu können, fuhr er Taxi in der Gegend um Tottenham. Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, und nahm alles gleichmütig hin: Freundlichkeit, Rassismus, Schwarzfahrer, Betrunkene und Leute, die sich im Taxi übergaben. Nachts lernte er an einer Abendschule für sein Diplom in Informationstechnologie. An den Samstagabenden legte er sich in dem schmutzigen Zimmer, das er sich mit vier anderen illegalen Einwanderern, alles Marokkaner, teilte, ins Bett und schlief vierundzwanzig Stunden lang, ohne aufzuwachen. Sein Ehrgeiz war es, die englische Staatsbürgerschaft und eine gute Stelle als Computerprogrammierer zu bekommen und seine Familie nach England zu holen.
Während Roddy in Whitakers Schlafzimmer saß und trank, erledigte Apu einen seiner leichtesten und lukrativsten Jobs. Jeden Donnerstagmorgen fuhr er eine alte jüdische Dame zu John Lewis in der Oxford Street – wo sie frisiert wurde –, und dann zu ihren Freundinnen in Marylebone, wo sie ihre wöchentliche Partie Bridge spielte.
Apu bog mit seinem alten Passat auf die A 400 ein. So viel Verkehr hatte er hier noch nie erlebt.
»Schließlich«, sagte sein Fahrgast gerade, »haben Wale an Land nichts verloren. Kein Wunder, dass sie alle gestorben sind – wenn ich drei Tage im Meer verbringen würde, würde ich auch sterben.«
»Oh ja, Mrs C.«
»Das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand.«
Apu schaltete in den ersten Gang, die Autos krochen nur noch dahin.
»Apu, warum ist es heute so voll? Ich komme zu spät.«
»Ich nicht weiß, Mrs C.«
Ein paar Minuten lang bewegte sich Apus Auto gar nicht mehr.
»Können wir denn nichts tun?«
»Es ist Stau, Mrs C.«
Nach weiteren zehn Minuten war klar, dass irgendetwas Außergewöhnliches den Stau verursacht haben musste; selbst die Huper gaben auf. Die Fahrer stiegen aus ihren Wagen und unterhielten sich miteinander. Manche Leute ließen sogar ihre Autos zurück und gingen die Straße hinunter.
»Finden Sie heraus, was los ist, Apu.«
Er stieg aus dem Wagen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um etwas sehen zu können.
»O mein Gott, Mrs C., so viele Leute!«
»Aber ich komme zu spät zum Friseur«, jammerte sein Fahrgast.
»Mrs C, ich schaue mal nach, was los ist.«
Er sagte ihr, sie solle den Wagen von innen verriegeln, er käme gleich wieder zurück. Dann lief er mit dem Strom der anderen Menschen durch die Gasse zwischen den beiden Autoschlangen. Einige Leute hatten Radios dabei, und auch aus den umstehenden Autos drangen Nachrichten: »… der zweite großer Zwischenfall innerhalb einer Woche …« – »Die Regierung versichert, die Situation sei für die Bürger nicht bedrohlich …«
Apu kam zu einer großen, aufgeregten Menschenmenge. Aber für ihn stellten so viele Menschen keine Herausforderung dar, und er schlängelte sich geschickt hindurch. Nach ein paar Minuten war er vorn und drängte seinen dünnen Körper zwischen zwei Männer indischer Herkunft – Gujaratis, wie er automatisch feststellte. Sie standen vor dem Schaufenster eines Fernsehladens.
»Sieh dir das an, mein Freund«, sagte einer der Männer.
Auf dem großen, hochmodernen Flachbildschirm, der hinter der Scheibe stand, sah man leicht verschwommen die Luftaufnahme einer großen Wasserfläche.
»Gott ist zornig auf uns«, meinte einer der Gujaratis, während Apu noch fassungslos daraufstarrte.
* * *
Leise erklärte Theresa, wie die Verletzung in ihrem Gesicht zustande gekommen war. Dass es nicht das erste Mal gewesen sei. Dass sie es nicht mehr aushielt. Ally starrte sie erschreckt an.
»Warum?«, flüsterte sie. Wut stieg in ihr auf. »Warum hast du es mir nie erzählt?«
»Ich war – ich wollte dich schützen. Ally, dieser Junge, Dave – mir ist es
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