Tiefe Wunden
schlecht rauswerfen. Dafür hat’s den armen Nowak erwischt und den Ritter. Nach achtzehn Jahren! Mit Schimpf und Schande hat sie ihn vom Hof gejagt! Er wohnt jetzt in einer schäbigen Einraumwohnung und hat nicht mal mehr ein Auto. Und das alles wegen so einer staubigen Überseekiste!«
Dieses letzte Wort rief in Pia eine vage Erinnerung hervor, aber sie kam nicht darauf, welche.
»Wo sind die Kisten jetzt?«, wollte sie wissen.
»Immer noch in der Werkstatt.«
»Können wir sie mal sehen?«
Anja Moormann überlegte kurz, kam dann aber wohl zu dem Schluss, dass nichts dabei sei, wenn sie der Polizei die Kisten zeigte. Bodenstein und Pia folgten ihr um das Haus herum zu den angebauten flachen Wirtschaftsgebäuden. Die Werkstatt war penibel aufgeräumt. An den Wänden über hölzernen Werkbänken hing jede Menge Werkzeug, dessen jeweiliger Umriss akkurat mit schwarzem Filzstift an die Wand gezeichnet worden war. Anja Moormann öffnete eine Tür.
»Da sind die Dinger«, sagte sie. Bodenstein und Pia betraten den Nebenraum, ein ehemaliges Kühlhaus, wie die gefliesten Wände und die Rohrbahn an der Decke erkennen ließen. Nebeneinander standen fünf staubige Überseekoffer. Auf einmal fiel Pia ein, wo der sechste war. Frau Moormann redete munter weiter und erzählte von ihrer letzten Begegnung mit Marcus Nowak. Kurz vor Weihnachten war er auf dem Mühlenhof erschienen, angeblich um ein Geschenk abzugeben. Nachdem er sich unter diesem Vorwand Zutritt zum Haus verschafft hatte, war er schnurstracks in den großen Salon gegangen, wo die gnädige Frau und ihre Freunde ihren monatlichen »Heimatabend« abhielten.
»Heimatabend?«, hakte Bodenstein nach.
»Ja.« Anja Moormann nickte eifrig. »Sie haben sich einmal im Monat getroffen, Goldberg, Schneider, die Frings und die gnädige Frau. Wenn der Herr Professor verreist war, haben sie sich hier getroffen, sonst bei Schneider.«
Pia warf Bodenstein einen Blick zu. Das war ja aufschlussreich! Aber momentan interessierte sie Nowak.
»Aha. Und was ist dann passiert?«
»Ach so, ja.« Die Haushälterin blieb mitten in der Werk statt stehen und kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Der Herr Nowak hat der gnädigen Frau vorgeworfen, sie würde ihm noch Geld schulden. Das hat er ganz höflich gesagt, ich hab’s selbst gehört, aber die gnädige Frau hat ihn ausgelacht und heruntergeputzt wie ... «
Sie brach mitten im Satz ab. Um die Ecke des Hauses glitt die dunkle Maybach-Limousine. Die Reifen knirschten auf dem sauber geharkten Kies, als der schwere Wagen direkt an ihnen vorbeifuhr und ein paar Meter weiter zum Stehen kam. Pia glaubte, hinter den verdunkelten Scheiben im Fond eine Person sitzen zu sehen, aber der pferdegesichtige Moormann, heute in korrekter Chauffeursuniform, stieg alleine aus, verschloss das Auto per Fernbedienung und kam auf sie zu.
»Die gnädige Frau ist leider noch immer unpässlich«, sagte er, und Pia war sicher, dass er nicht die Wahrheit sagte. Sie bemerkte den kurzen Blick, den Moormann und seine Frau wechselten. Wie fühlte es sich wohl an, Dienstbote von reichen Leuten zu sein, für sie lügen und immer den Mund halten zu müssen? Ob die Moormanns ihre Chefin insgeheim hassten? Anja Moormann hatte sich schließlich nicht sonderlich loyal verhalten.
»Dann richten Sie ihr doch bitte herzliche Grüße von mir aus«, sagte Bodenstein. »Ich melde mich morgen noch einmal. «
Moormann nickte. Er und seine Frau blieben vor der Tür der Werkstatt stehen und blickten Bodenstein und Pia nach.
»Ich wette, er lügt«, sagte Pia leise zu ihrem Chef.
»Ja, das glaube ich auch«, erwiderte Bodenstein. »Sie sitzt im Auto.«
»Gehen wir hin und machen die Tür auf«, schlug Pia vor. »Dann ist sie schön blamiert.«
Bodenstein schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Sie läuft uns schon nicht weg. Soll sie uns ruhig für ein bisschen beschränkt halten.«
Dr. Thomas Ritter hatte als Ort für ihr Treffen das Café Siesmayer im Frankfurter Palmengarten vorgeschlagen, und Bodenstein vermutete, dass er sich seiner Wohnung schämte. Der ehemalige Assistent von Vera Kaltensee saß schon an einem der Tische im Raucherbereich des Cafés, als sie eintraten. Er drückte eine Zigarette im Aschenbecher aus und sprang auf, als Bodenstein direkt auf ihn zusteuerte. Pia schätzte ihn auf Mitte vierzig. Mit den kantigen, ein wenig asymmetrischen Gesichtszügen, einer vorspringenden Nase, tiefliegenden blauen Augen und dichtem, vorzeitig ergrautem Haar
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