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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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Siegbert ging die Behauptung der Kripoleute nicht aus dem Kopf, er sei der leibliche Vater von Robert gewesen, und seine Mutter habe Danuta kurz nach der Geburt des Kindes getötet. Konnte das wahr sein? Und wo war seine Mutter tatsächlich? Er hatte am Mittag noch mit ihr gesprochen. Sie hatte beschlossen, sich von Moormann in ihr Haus im Tessin fahren zu lassen, aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht bei ihm gemeldet. Siegbert Kaltensee griff nach dem Telefon und wählte die Nummer seiner Schwester. Jutta hatte keinen Gedanken an die Mutter verschwendet oder an Elard, der ebenso verschwunden war wie Ritter. Ihre einzige Sorge galtihrer Karriere, die durch die unseligen Ereignisse Schaden nehmen könnte.
    »Hast du mal auf die Uhr geguckt?«, meldete sie sich nun ungehalten.
    »Wo ist Ritter?«, fragte Siegbert seine Schwester. »Was hast du mit ihm gemacht?«
    »Ich? Sag mal, spinnst du?«, empörte sie sich. »Du warst es doch, der Mutters Vorschlag so begierig aufgegriffen hat! «
    »Ich habe ihn für eine Weile aus dem Verkehr ziehen lassen, mehr nicht. Hast du etwas von Mutter gehört?«
    Siegbert bewunderte und verehrte seine Mutter, hatte von Kindesbeinen an um ihre Liebe und Anerkennung gekämpft und war ihren Wünschen, Anordnungen und Bitten stets nachgekommen, auch dann, wenn er selbst nicht von deren Richtigkeit überzeugt gewesen war. Sie war seine Mutter, die große Vera Kaltensee, und wenn er ihr nur gehorchte, dann würde sie ihn eines Tages so lieben, wie sie Jutta liebte. Oder Elard, der sich wie eine Zecke auf dem Mühlenhof festgesetzt hatte.
    »Nein«, sagte Jutta. »Dann hätte ich dir schon Bescheid gesagt.«
    »Sie müsste doch längst angekommen sein. Moormann meldet sich auch nicht auf seinem Handy. Ich mache mir Sorgen.«
    »Hör zu, Berti.« Jutta senkte die Stimme. »Mutter wird es schon gutgehen. Glaub nicht den Mist, den die Polizei erzählt hat, von wegen Elard wäre hinter ihr her. Du kennst Elard doch! Wahrscheinlich hat er sich aus dem Staub gemacht, der Feigling, zusammen mit seinem kleinen Freund.«
    »Mit wem?«, fragte Siegbert konsterniert.
    »Sag bloß, du weißt es nicht?« Jutta lachte boshaft. »Elard steht der Sinn neuerdings nach hübschen jungen Männern.«
    »So ein Unsinn!« Siegbert verabscheute seinen älteren Halbbruder aus tiefstem Herzen, aber mit dieser Behauptung ging Jutta sicher zu weit.
    »Wie auch immer.« Juttas Stimme wurde kalt. »Ich frage mich, ob ihr das alle mit Absicht tut, um mir zu schaden. Mutter mit ihren Nazifreunden, ein schwuler Bruder und ein Skelett auf dem Mühlenhof! Wenn die Presse davon Wind bekommt, bin ich erledigt.«
    Siegbert Kaltensee schwieg verwirrt. In den vergangenen Tagen hatte er seine Schwester von einer Seite kennengelernt, die ihm bis dahin fremd gewesen war, und allmählich begriffen, dass ihr ganzes Tun von eisenharter Berechnung bestimmt wurde. Ihr war es herzlich gleichgültig, wo Vera steckte, ob Elard drei Menschen erschossen hatte und wessen Skelett die Polizei gefunden hatte – solange man nur ihren Namen nicht damit in Verbindung brachte.
    »Verlier jetzt bloß nicht die Nerven, hörst du, Berti? «, be schwor sie ihn. »Egal, was die Polizei uns fragt: Wir wissen nichts. Und das stimmt sogar. Mutter hat in ihrem Leben Fehler gemacht, die ich nicht ausbaden möchte.«
    »Dich interessiert gar nicht, was mit ihr ist«, stellte Siegbert mit tonloser Stimme fest. »Dabei ist sie unsere Mutter ...«
    »Werd bloß nicht sentimental! Mutter ist eine alte Frau, die ihr Leben gelebt hat! Ich habe noch Pläne, und die will ich mir nicht von ihr verderben lassen. Und auch nicht von Elard oder Thomas oder ...«
    Siegbert Kaltensee legte den Hörer auf. Von ferne hörte er das Schluchzen seiner Tochter und die beruhigende Stimme seiner Frau. Er starrte blicklos vor sich hin. Woher kamen mit einem Mal die Zweifel, die seit dem Gespräch mit den beiden Kripoleuten an ihm nagten? Er hatte all das doch tun müssen , um die Familie zu schützen! Die Familie war schließlich das höchste Gut, das war das Credo seiner Mutter. Weshalbnur fühlte er sich plötzlich von ihr im Stich gelassen? Warum meldete sie sich nicht?
     
    Miriam erwartete sie wie verabredet um halb neun vor dem Regionalflughafen nahe Szczytno-Szymany, dem einzigen Flughafen in der Woiwodschaft Ermland-Masuren, dessen Tage allerdings gezählt waren. Der Flug in der erstaunlich komfortablen Cessna CE-500 Citation hatte knappe vier Stunden gedauert, die

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