Tiefe Wunden
eine weibliche Stimme. »Guten Morgen allerseits.«
Staatsanwältin Valerie Löblich stolzierte hocherhobenen Hauptes herein, nickte Ronnie Böhme zu und übersah Pia,die wiederum Hennings plötzliches Unbehagen mit Interesse registrierte.
»Guten Morgen, Frau Löblich«, sagte er nur.
»Guten Morgen, Herr Dr. Kirchhoff«, erwiderte die Staatsanwältin kühl. Die Förmlichkeit, mit der sie sich begrüßten, entlockte Pia ein Grinsen. Sie dachte an ihre letzte Begegnung mit Staatsanwältin Löblich im Wohnzimmer von Hennings Wohnung, die nur als äußerst kompromittierend bezeichnet werden konnte. Damals hatten Valerie Löblich und auch Henning erheblich weniger Kleidung am Leib gehabt als jetzt.
»Dann können wir ja anfangen.« Kirchhoff vermied je den Blickkontakt mit Staatsanwältin Löblich oder Pia und verfiel in hektische Betriebsamkeit. Er hatte Pia seinerzeit versichert, dass es trotz aller Bemühungen der Löblich bei dieser einen Begegnung geblieben war, und sie wusste, dass die Staatsanwältin ihr die Schuld daran gab. Sie hielt sich im Hintergrund, während Henning die äußere Leichenschau vornahm und seine Kommentare in das Mikrofon an seinem Hals diktierte.
»Sie hat sich jetzt einen Richter angelacht«, raunte Ronnie Pia zu und wies mit einem Kopfnicken auf die Staatsanwältin, die mit verschränkten Armen direkt am Sektionstisch stand. Pia zuckte die Schultern. Es war ihr herzlich gleichgültig. Ein leichtes Ziehen in Oberschenkeln und Rücken erinnerte sie an die vergangene leidenschaftliche Nacht, und sie rechnete nach, wann Christoph in Kapstadt landen würde. Er hatte versprochen, ihr sofort nach der Landung eine SMS zu schreiben. Ob er wohl daran dachte? Pias Gedanken schweiften ab. Sie bekam kaum mit, was Henning tat.
Er erweiterte den brutalen Schnitt, den der Mörder dem Mädchen zugefügt hatte, entnahm die einzelnen Organe und sezierte dann das Herz. Ronnie brachte Proben vom Mageninhalt ins Labor im oberen Stockwerk. Während der ganzenZeit sprach niemand ein Wort, abgesehen von Henning, der seine Arbeit mit halblauter Stimme für das Obduktionsprotokoll kommentierte.
»Pia! «, rief er auf einmal scharf. »Schläfst du?«
Unsanft aus ihren Gedanken gerissen, machte sie einen Schritt nach vorne. Gleichzeitig trat auch die Staatsanwältin näher an den Tisch.
»Ihr müsst nach einem Messer mit einer etwa zehn Zentimeter langen Hawkbill-Klinge suchen«, sagte Kirchhoff zu seiner Exfrau. »Der Täter hat den Schnitt mit viel Kraft und ohne zu zögern ausgeführt. Die Klinge hat dabei die inneren Organe verletzt und Schnittspuren auf den Rippen hinterlassen.«
»Was ist eine Hawkbill-Klinge?«, fragte die Staatsanwältin.
»Ich bin nicht Ihr Nachhilfelehrer. Machen Sie Ihre Haus aufgaben«, fuhr Kirchhoff sie an, und da tat sie Pia plötzlich leid.
»Hawkbill-Klingen sind halbmondförmig gebogen«, er klärte sie deshalb. »Sie stammen aus Indonesien und wurden ursprünglich beim Fischfang benutzt. Zum Schneiden sind solche Klingen nicht geeignet, sie werden ausschließlich für Kampfmesser verwendet.«
»Danke.« Staatsanwältin Löblich nickte Pia zu.
»So ein Messer kann man nicht im Supermarkt kaufen.« Kirchhoffs Laune hatte sich aus unerfindlichen Gründen schlagartig verschlechtert. »Zuletzt habe ich solche Schnittverletzungen bei Opfern der UÇK im Kosovo gesehen.«
»Was ist mit ihren Augen?« Pia bemühte sich um Sachlichkeit, aber sie schauderte bei dem Gedanken daran, was die Frau vor ihrem Tod hatte durchmachen müssen.
»Was soll damit sein?«, blaffte ihr Exmann gereizt. »So weit bin ich noch nicht.«
Pia und die Staatsanwältin wechselten einen verständnisinnigen Blick, der Kirchhoff nicht entging. Er begann, den Unterleib der Frau zu untersuchen, entnahm Proben und murmelte nur noch unverständlich vor sich hin. Pia bedauerte die Sekretärin, die das Obduktionsprotokoll schreiben durfte. Zwanzig Minuten später betrachtete Kirchhoff die bläulichen Lippen der Toten mit einem Vergrößerungsglas, dann untersuchte er eingehend die Mundhöhle.
»Was ist denn?«, fragte Valerie Löblich ungeduldig. »Machen Sie es doch nicht unnötig spannend.«
»Bitte noch einen Moment Geduld, werte Frau Staatsanwältin«, erwiderte Kirchhoff spitz. Er ergriff ein Skalpell, sezierte die Speiseröhre und den Kehlkopf. Dann nahm er mit hochkonzentrierter Miene mehrere Proben mit einem Wattestäbchen und reichte eine nach der anderen seinem Assistenten. Schließlich ergriff er
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